Das Schicksal in unseren Händen

An jenem Morgen habe ich in die Augen von neun Flüchtlingen aus Afghanistan geblickt und ihre Hände in meinen gehalten – zwei Männer, vier Frauen und drei Kinder mit erschöpften Gesichtern. Hier berührte ihre Geschichte mein Leben, hier personifizierte sich die Gruppe von Menschen, deren Rechte wir einfordern.

Es war fast windstill und die See lag schwarz und ruhig vor ihnen. Man hatte die Lichter am anderen Ufer erkennen können, als sie das Boot an der türkischen Küste bestiegen, um über Nacht die griechische Insel Lesbos zu erreichen. Bei Tagesanbruch wurden wir über die Ankunft eines Bootes in der nahegelegenen Bucht informiert, das es nach Europa geschafft hatte. Die Familien wurden zu uns gebracht, um sie hier mit Wasser und Essen zu versorgen.

Sie hatten alles aufgegeben und sich ins Ungewisse gestürzt, um der Quelle ihrer Angst zu entfliehen, ihre einfachsten Bedürfnisse zu stillen und Sicherheit zu finden. Und nun, in diesem kurzen Moment schien sich alles zum Guten zu wenden: Sie hatten Europa erreicht!

Noch schlaftrunken ging ich auf die Menschengruppe zu und reichte ihnen die Hand. Ihr Griff liess erahnen wie geschwächt sie waren. Ohne Worte deuteten wir unsere Gesten und Gesichter und verstanden. Ein kleiner Junge hatte im Camp eine Wasserpistole gefunden. Als mich ihr Strahl traf flammte Entsetzen in den Augen seiner Eltern auf. Doch mein Lachen erleichterte sie.

Ich spürte Vertrauen in ihnen aufkeimen: In mich, in die Menschlichkeit, in Europa. Doch ich wusste, was dieses Land für sie bereit hielt und hatte nie grössere Beschämung gefühlt.

Die Behörden holten die Gruppe nach langem Warten ab. Die Familie, das einzige was diesen Menschen geblieben war, wurde für die lange Fahrt, deren Ziel sie nicht kannte, getrennt. Die Reise endete in der Transitzone am Hafen von Mytillini, ausserhalb des Zollbereiches, im Niemandsland. Hier wurde ein Dutzend Flüchtlingsfamilien während Tagen verwahrt. In Gruppen sassen sie zusammen, während die Kinder auf dem Teerboden des offenen Parkplatzes schliefen, über den die Touristen ihre Rollkoffer zur Fähre schleiften. Sie wurden eingeschleust in den jahrelangen administrativen Prozess in demütigender Gefangenschaft, der an den Grenzen Europas oft jeder Menschlichkeit entbehren.

Das Wort Migration wurde zum Schicksal einer Familie, die mir voller Hoffnung gegenübergestanden hatte. Ich habe nur einen einzigen Wunsch an uns, die wir das Glück haben Bürgerinnen und Bürger Europas zu sein: Diesen Keim der Hoffnung nicht zu zerstören.

Daniela Enzler

Bericht aus einem Camp von Amnesty International auf der Insel Lesbos.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit mit Flüchtlingen UNHCR.org