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OVG 3 S 106.16

Publisher Germany: Oberverwaltungsgericht
Publication Date 22 December 2016
Cite as OVG 3 S 106.16, Germany: Oberverwaltungsgericht, 22 December 2016, available at: https://www.refworld.org/cases,DEU_THUER_OBER,58c2996a4.html [accessed 19 May 2023]
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Nachzug der Mutter zum minderjährigen Flüchtling aus dem Irak

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Die Kosten der Beschwerde tragen die Antragsteller.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

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Die Beschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes und gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe hat keinen Erfolg.

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Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt keine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Danach haben die Antragsteller keinen Anordnungsanspruch mit der die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin kann nicht im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet werden, den Antragstellern Visa zum Familiennachzug zu ihrer Mutter nach § 32 Abs. 1 AufenthG zu erteilen.

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1. Der Beschwerde ist insoweit zuzustimmen, dass der auf § 32 Abs. 1 AufenthG gestützte Nachzugsanspruch grundsätzlich nicht von vornherein daran scheitert, dass der sich weiterhin im Ausland aufhaltende, allein sorgeberechtigte Elternteil nur im Besitz eines befristeten nationalen Visums nach § 6 Abs. 3, § 36 Abs. 1 AufenthG ist (Elternnachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden minderjährigen Flüchtling) und gemeinsam mit seinem um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchenden Kind ausreisen möchte. Zwar setzen § 29 Abs. 1, § 32 Abs. 1 AufenthG voraus, dass der allein sorgeberechtigte Elternteil, zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU ist. Insoweit ist jedoch ein Voraufenthalt im Bundesgebiet nicht zwingend. Trotz der formalen Differenzierung zwischen Visum und Aufenthaltserlaubnis als unterschiedliche Formen eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) reicht der elterliche Besitz eines nationalen Visums als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und den Eltern angesichts des ihnen erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird. Dies ist vor allem im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass sich bereits die Erteilung des elterlichen Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die Niederlassungserlaubnis und die zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften richtet, sodass es reiner Formalismus wäre, zunächst die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet abzuwarten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 -, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2015 - OVG 3 S 95.15 - juris Rn. 2; Hailbronner, Aufenthaltsgesetz, Kommentar, § 29 Rn. 5; Marx, in: GK-AufenthG, § 29 Rn. 28 ff., s. auch Ziffer 29.1.2.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz).

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Gemessen daran kommt hier allerdings der Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht, weil der Mutter der Antragsteller nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden wird. Ihr Visum ist nur bis zum 31. Dezember 2016 gültig und kann nicht verlängert werden. Der ihr derzeit (noch) zustehende Anspruch gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG erlischt mit Ablauf des 31. Dezember 2016, denn ihr im Bundesgebiet als Flüchtling lebender Sohn vollendet am 1. Januar 2017 das 18. Lebensjahr.

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2. Unabhängig davon steht der Erteilung der von den Antragstellern nach § 6 Abs. 3, § 32 Abs. 1 AufenthG begehrten Visa entgegen, dass ihr Lebensunterhalt im Bundesgebiet nicht gesichert ist, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Ein Ausnahmefall von dieser allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung ist - auch unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts - nicht glaubhaft gemacht. Die Beantwortung der Frage, ob beim Kindernachzug ausnahmsweise von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden kann, richtet sich in Fällen wie dem vorliegenden neben der Situation im Herkunftsland u.a. nach dem Zweck der den Eltern erteilten Aufenthaltserlaubnis und ihrem weiteren, einen Kindernachzug vermittelnden (sicheren) Bleiberecht im Bundesgebiet (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 -; Beschluss vom 28. September 2016 - OVG 3 S 55.16 - juris Rn. 3; Beschluss vom 16. September 2016 - OVG 3 S 42.16 - juris). Ist dieses Bleiberecht zeitlich eng begrenzt, erscheint es auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GR-Charta schon deshalb regelmäßig nicht unverhältnismäßig, keine Ausnahme von der gebotenen Sicherung des Lebensunterhaltes anzunehmen, sofern nicht die Würdigung der Umstände des Einzelfalles etwas anderes ergibt (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32/07 - juris Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16/12 - juris Rn. 15 ff.).

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Hier wird das Aufenthaltsrecht der Mutter der Antragsteller im Bundesgebiet auf der Grundlage des nach § 36 Abs. 1 AufenthG erteilten Visums mit Ablauf des 31. Dezember 2016 enden, weil der als Flüchtling im Bundesgebiet lebende Sohn am 1. Januar 2017 sein 18. Lebensjahr vollendet. Der Anspruch der Eltern auf Nachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Kind volljährig wird. Das Nachzugsrecht der Eltern, das seine Grundlage in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2003/86/EG hat, dient allein dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind. Dies zeigt sich auch darin, dass das Aufenthaltsgesetz den nachgezogenen Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling im Bundesgebiet lebenden Kindes grundsätzlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht eröffnet (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 12 und Rn. 18 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. September 2016 - OVG 3 S 42.16 - juris Rn. 6).

7

Die Antragsteller könnten sich auch nicht darauf berufen, dass ihrer Mutter ein über den 31. Dezember 2016 hinausgehendes Bleiberecht zustehe, weil sie Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylG erlangen könne, wenn sie unverzüglich nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet einen Asylantrag stelle (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 -).

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Gegen die Annahme eines derartigen (sicheren) Bleiberechts, das geeignet sein könnte, einen Ausnahmefall im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu rechtfertigen, spricht bereits, dass die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz die Einleitung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet voraussetzt und damit von einem bislang nicht gestellten Antrag der Mutter der Antragsteller abhängt, den diese vom Ausland aus nicht stellen können (vgl. § 13, § 18 AsylG). Dass die Mutter der Antragsteller diesen Antrag nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet anbringen wird, mag zwar wahrscheinlich sein, ist aber derzeit dennoch ungewiss. Ein hypothetischer Antrag kann grundsätzlich (noch) keine Rechtsposition vermitteln, auf die sich der Betroffene zu seinen Gunsten berufen könnte; dies gilt erst Recht für ein Begehren in einem einstweiligen Anordnungsverfahren unter Vorwegnahme der Hauptsache. Unabhängig davon unterliegt der (unterstellte) Asylantrag der Mutter der insoweit allein verbindlichen Prüfung durch die hierfür zuständige und am Visumverfahren nicht beteiligte Behörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in einem eigenständigen Verfahren (vgl. § 5 Abs. 1, § 6 AsylG). Vor diesem Hintergrund ist der Ausgang eines erst noch durchzuführenden Asylverfahrens grundsätzlich nicht von den insoweit unzuständigen Ausländerbehörden oder den Auslandsvertretungen der Antragsgegnerin bei der Beantwortung der Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis oder ein Visum erteilt werden muss, zu prognostizieren oder gar vorwegzunehmen. Der Gesetzgeber hat das Asylverfahren und das aufenthaltsrechtliche Verfahren deutlich voneinander getrennt und unterschiedlich ausgestaltet (vgl. zum Verfahren beim Bundesamt §§ 23 ff. AsylG). Während der Durchführung des Asylverfahrens erhält der Betroffene lediglich eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylG), die seinen im Ausland verbliebenen Familienangehörigen keinen Nachzugsanspruch vermittelt. Hier würde das der Mutter bereits erteilte Visum bzw. eine im Bundesgebiet zu erteilende Aufenthaltserlaubnis mit der Asylantragstellung zudem nach § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG erlöschen, weil davon auszugehen ist, dass deren jeweilige Gesamtgeltungsdauer unter sechs Monaten liegt. Erst nach erfolgreich durchlaufenem Asylverfahren kommt nach der Konzeption des Gesetzgebers die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht (vgl. § 25 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG), wobei der Gesetzgeber den Familiennachzug zu Personen mit subsidiärem Schutz derzeit gemäß § 104 Abs. 13 AufenthG beschränkt hat. Auch insoweit wird deutlich, dass ein etwaiges Aufenthaltsrecht infolge eines Asylverfahrens grundsätzlich nicht vor dessen Abschluss fingiert werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2016 - OVG 3 S 55.16 - juris Rn. 6).

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Diesem Ergebnis stehen unionsrechtliche Vorschriften nicht entgegen. § 36 Abs. 1 AufenthG setzt Art. 10 Abs. 3 a) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 (Familienzusammenführungsrichtlinie) zutreffend und abschließend um. Insoweit normiert die Familienzusammenführungsrichtlinie einen von der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängigen Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem minderjährigen unbegleiteten Flüchtling nur für Verwandte in gerader aufsteigender Linie ersten Gerades, nicht jedoch für die Geschwister des Flüchtlings. Vor diesem Hintergrund ist es unionsrechtskonform und widerspricht nicht dem Grundsatz der effektiven Rechtsausübung, die Gewährung von Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG auch in diesen Fällen grundsätzlich von einer Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) abhängig zu machen, ohne dass regelmäßig ein Ausnahmefall angenommen werden müsste. Dies gilt umso mehr, als das Nachzugsrecht der Eltern mit der Volljährigkeit des minderjährigen Flüchtlings entfällt und ihnen ein weiteres aufenthaltsrechtliches Bleiberecht grundsätzlich nicht eröffnet ist.

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Nichts anderes ergibt sich aus Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie). Die dort normierte Wahrung des Familienverbandes betrifft, wie die Definition des Begriffs "Familienangehörige" in Art. 2 j) der Qualifikationsrichtlinie zeigt, nur solche Familienmitglieder, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sich die Person befindet, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Ein Anspruch auf Familienzusammenführung für weiterhin außerhalb des Bundesgebietes lebende Familienangehörige ergibt sich danach gerade nicht.

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Schließlich verhilft der Beschwerde auch nicht der Hinweis auf Art. 3 Abs. 1, Art. 10 der UN-Kinderrechtskonvention zum Erfolg. Ein unmittelbarer Rechtsanspruch lässt sich daraus nicht ableiten; die konkrete Ausgestaltung des Familiennachzugs obliegt, soweit sie nicht unionsrechtlich determiniert ist, dem nationalen Gesetzgeber (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16/12 - juris Rn. 24). Ein von der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängiger Familiennachzug muss danach nicht gewährt werden. Dies gilt erst recht, wenn Geschwister nachziehen möchten, deren Eltern kein längerfristig gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet haben, das einen Anspruch auf Familiennachzug vermittelt.

12

Soweit die Beschwerde auf § 36 Abs. 2 AufenthG verweist, legt sie nicht hinreichend dar, dass hier eine außergewöhnliche Härte besteht, die voraussetzt, dass der im Bundesgebiet lebende Bruder der Antragsteller gerade auf deren Hilfe im Bundesgebiet angewiesen ist.

13

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ist im Hinblick auf die mangelnden Erfolgsaussichten nicht begründet, § 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO. Das gilt auch in Bezug auf die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe. Bei Antragstellung am 24. November 2016 war ein Anspruch der Antragsteller nach § 32 Abs. 1 AufenthG aus den dargelegten Gründen ebenfalls nicht glaubhaft gemacht, weil das einen Anspruch auf Nachzug vermittelnde Bleiberecht ihrer Mutter nur bis zum 31. Dezember 2016 gültig und der Lebensunterhalt der Antragsteller nicht gesichert war.

14

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

15

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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