Verwaltungsgericht Düsseldorf
Publisher | Germany: Verwaltungsgericht |
Publication Date | 10 November 2017 |
Citation / Document Symbol | 12 L 4591 / 17.A |
Cite as | Verwaltungsgericht Düsseldorf, 12 L 4591 / 17.A, Germany: Verwaltungsgericht, 10 November 2017, available at: https://www.refworld.org/cases,DEU_VERWALT2,5a05d36c4.html [accessed 19 May 2023] |
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Verwaltungsgericht Düsseldorf, 12 L 4591/17.A
Datum: 26.10.2017 Gericht: Verwaltungsgericht Düsseldorf Spruchkörper: 12. Kammer Entscheidungsart: Beschluss Aktenzeichen: 12 L 4591/17.A ECLI: ECLI:DE:VGD:2017:1026.12L4591.17A.00 Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 15680/17.A hinsichtlich Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. September 2017 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
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Gründe:
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Die Zuständigkeit des Einzelrichters für die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergibt sich aus § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG.
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Der am 14. September 2017 sinngemäß gestellte und dem Tenor entsprechende Antrag hat Erfolg.
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Der Antrag ist zulässig. Er ist nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da der in der Hauptsache erhobenen Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zukommt. Der Antragsteller hat auch die Wochenfrist zur Stellung des Antrages gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingehalten, denn der in der Hauptsache angefochtene Bescheid wurde ihm am 8. September 2017 zugestellt.
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Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich - wenn auch nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen.
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Vgl. zu diesem Maßstab: VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 12. August 2016 - 12 L 2625/16.A -, juris, Rn. 7, und vom 7. Dezember 2015 - 12 L 3592/15.A -, juris, Rn. 5.
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Die Interessenabwägung fällt hier zu Lasten der Antragsgegnerin aus, denn die in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 5. September 2017 ausgesprochene Abschiebungsanordnung nach Griechenland begegnet nach diesem Maßstab durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
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Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist - Dublin III-Verordnung - (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung wird der Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.
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Nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung dürfte hier zwar eine Zuständigkeit Griechenlands für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers bestanden haben. Dies folgt aus Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung, denn Griechenland hat dem Antragsteller ein Visum ausgestellt. Die Antragsgegnerin hat am 16. Juni 2017 um Aufnahme des Antragstellers ersucht. Die griechischen Behörden haben der Aufnahme am 8. August 2017 zugestimmt.
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Der Antragsteller hat aber einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III‑Verordnung. Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Griechenland systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen.
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Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden. Die insoweit grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbotes hinreichend beachtet, ist aber nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung der Vermutung ist zwar wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden genknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die EU‑Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/ 85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Vielmehr müssen das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im jeweiligen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelmäßig so defizitär sein, dass Antragstellern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht (systemische Mängel).
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Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60, vom 14. November 2013 - C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 33ff., und vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 (N.S. u.a.) -, juris, Rn. 96; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rn. 9.
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Es spricht in Bezug auf Griechenland aufgrund der vorliegenden, allgemein zugänglichen Erkenntnisse derzeit Überwiegendes dafür, dass Asylverfahren und Aufnahmebedingungen auch aktuell systemische Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung aufweisen. Seit 2011 durften Überstellungen von Asylbewerbern auf der Grundlage der Dublin III-Verordnung nach Griechenland wegen systemischer Mängel im griechischen Asylsystem nicht mehr erfolgen.
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Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/09 -, M.S.S. ./. Bulgarien und Griechenland, NVwZ 2011, 413; BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris, Rn. 22.
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Es ist nicht ersichtlich, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Griechenland nunmehr behoben wären.
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Zwar hat die EU-Kommission am 8. Dezember 2016 Empfehlungen an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland nach der Dublin III-Verordnung veröffentlicht.
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Vgl. Empfehlung der Kommission vom 8. Dezember 2016 an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2014_2019/plmrep/COMMITTEES/LIBE/DV/2017/01-12/COM_C(2016)8525_DE.pdf ; hierzu: VG Göttingen, Beschluss vom 26. April 2017 - 3 B 267/17 -, Rn. 11, juris.
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Darin beschreibt die Kommission jedoch selbst Umstände, die darauf schließen lassen, dass derzeit noch systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Griechenland bestehen.
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Hinsichtlich des Asylsystems liegen weiterhin systemische Mängel in Griechenland vor. Die Organisation der Aufnahme in Griechenland wird nach den Ausführungen der EU‑Kommission nur unzureichend koordiniert, da es an einem klaren Rechtsrahmen und Überwachungssystem fehlt und einige Camps vom Ministerium und andere vom Aufnahme- und Identifizierungsdienst nur ad-hoc verwaltet werden. Der Aufnahmedienst sei noch immer dabei, seine Kapazitäten aufzubauen. Derzeit seien 478 Personen im Asyldienst beschäftigt. Die griechischen Behörden strebten an, alle auf Vertragsbasis beschäftigten Mitarbeiter bis Ende 2017 durch fest angestellte Mitarbeiter zu ersetzen und die Kapazität nicht noch weiter zu erhöhen. Der griechische Asyldienst habe mitgeteilt, dass eine raschere Aufstockung des Personals nicht möglich sei, da es an erfahrenem Personal für die Einarbeitung, Betreuung und Beaufsichtigung neu eingestellter Mitarbeiter fehle. Angesichts des enormen Anstiegs der Zahl der Asylanträge in Griechenland sei derzeit nicht klar, ob die derzeitige und die geplante Personalausstattung des Asyldienstes ausreiche, um das gegenwärtige und das künftig zu erwartende Fallaufkommen adäquat und fristgerecht bewältigen zu können.
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Vgl. Kommission, Empfehlung, a.a.O., Seite 7 f.
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Insbesondere bestehen laut EU-Kommission weiterhin systemische Mängel mit Blick auf den Schutz schutzbedürftiger Antragsteller.
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Vgl. Kommission, Empfehlung, a.a.O., Seite 10 f.
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Die griechische Regierung selbst geht offenbar vom Vorliegen systemischer Mängel aus. Mit Schreiben vom 22. November 2016 übermittelte Griechenland der EU-Kommission Informationen zur aktuellen Lage der Asylbewerber in Griechenland und zu den Fortschritten bei der Reform des dortigen Asylsystems. Zugleich äußerte sich Griechenland besorgt über die Aussicht auf eine mögliche Wiederaufnahme der Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung und verwies auf die Zahl der derzeit im Land aufhältigen Migranten, die eine unverhältnismäßig hohe Belastung darstelle und dazu führe, dass die Asyl- und Aufnahmekapazitäten ausgereizt seien.
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Vgl. Kommission, Empfehlung, a.a.O., Seite 4.
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Hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Griechenland liegen ebenfalls weiterhin systemische Mängel vor. Nach den Ausführungen der EU-Kommission sind derzeit die Anforderungen der Richtlinie 2013/33/EU über Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, weiterhin nicht erfüllt; dies gilt insbesondere für Unterkünfte auf den Inseln und einige der vorübergehenden Unterkünfte auf dem Festland. Die Hotspot-Einrichtungen auf den Inseln sind laut Kommission nicht nur überfüllt, sondern erfüllen, was die Bedingungen der Sanitär- und Hygieneanlagen und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung insbesondere für schutzbedürftige Gruppen betrifft, nicht den Standard. Der Großteil der verbleibenden Aufnahmeeinrichtungen setze sich aus Behelfsunterkünften (derzeit an 53 Standorten) und vorübergehenden Einrichtungen mit sehr voneinander abweichenden und oft unzureichenden materiellen als auch sicherheitstechnischen Standards zusammen. Es sei auch erst damit begonnen worden, einige der Einrichtungen winterfest zu machen. Selbst mit Verbesserungen werde es schwierig sein, aus einigen Behelfsunterkünften geeignete dauerhafte Aufnahmeeinrichtungen zu machen; daher müssten möglicherweise einige geschlossen werden, um andere wiederum zu konsolidieren.
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Vgl. Kommission, Empfehlung, a.a.O., Seite 6.
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Nach alledem erweist es sich als unmöglich im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-Verordnung, den Antragsteller nach Griechenland zu überstellen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO, § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).