Last Updated: Friday, 07 October 2022, 16:32 GMT

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. November 1997 - BVerwG 9 C 34.96

Publisher Germany: Bundesverwaltungsgericht
Publication Date 4 November 1997
Citation / Document Symbol BVerwG 9 C 34.96
Cite as Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. November 1997 - BVerwG 9 C 34.96, BVerwG 9 C 34.96, Germany: Bundesverwaltungsgericht, 4 November 1997, available at: https://www.refworld.org/cases,DEU_BUNDESVERWALT,3ae6b73124.html [accessed 9 October 2022]
DisclaimerThis is not a UNHCR publication. UNHCR is not responsible for, nor does it necessarily endorse, its content. Any views expressed are solely those of the author or publisher and do not necessarily reflect those of UNHCR, the United Nations or its Member States.

Bundesverwaltungsgericht, 4 Nov. 1997

Leitsatz (nicht amtlich):

Als quasi-staatlich ist eine Gebietsgewalt im Sinne des Asylrechts nur dann anzusehen, wenn sie auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht, wobei Effektivität und Stabilität eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft erfordern, vorrangig verkörpert in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparats.

Aus den Gründen:

I.

Der 1958 geborene Kl. ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit. Er verließ sein Heimatland Mitte Januar 1992 und reiste über Karatschi mit dem Flugzeug nach Deutschland, wo er Asyl beantragte. Er trug vor, er sei seit 1973 Mitglied der kommunistischen Partei Afghanistans (DVPA) gewesen und habe der Khalq-Fraktion angehört. Er sei zuletzt Oberst der afganischen Luftwaffe gewesen und habe an zahlreichen Kampfeinsätzen gegen die Mudjaheddin teilgenommen. Anfang Februar 1990 habe er sich an einem Putsch gegen die vom Parcham-Flügel der DVPA geführte Regierung Nadschibullah beteiligt. Der Umsturzversuch sei gescheitert; er sei inhaftiert worden, habe aber aus dem Gefängnis entkommen und ausreisen können.

Den Asylantrag des Kl. lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) ab und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie des § 53 AuslG nicht vorliegen; außerdem enthielt der Bescheid eine Abschiebungsandrohung nach Afghanistan. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Verfolgung, die der Kl. bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, sei keine politische Verfolgung, weil es infolge des andauernden Bürgerkriegs zur Zeit keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt gebe. Auch Abschiebungshindernisse lägen nicht vor.

Das VG verpflichtete die Bekl. unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG in bezug auf Afghanistan und wies die Klage im übrigen ab. Auf die Berufung des Kl. hat der VGH die Bekl. ferner verpflichtet, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen; die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat er zurückgewiesen. Zur Begründung hat der VGH ausgeführt: Der Kl. sei politisch Verfolgter. Zwar sei in Afghanistan gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine landesweite, zu politischer Verfolgung fähige Herrschaftsmacht nicht vorhanden. Nach der Machtübemahme durch die Mudjaheddin hätten sich jedoch über Provinzgrenzen hinweg autonome Teilbereiche herausgebildet, in denen - wenn auch nur regional begrenzt - staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt ausgeübt werde. Die Berufung des Bundesbeauftragten bleibe ohne Erfolg, weil das VG im Ergebnis zu Recht ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art. 3 EMRK angenommen habe. Dem Kl. drohe nämlich eine unmenschliche Behandlung durch staatliche bzw. staatsähnliche Herrschaftsgewalten in Afghanistan.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Bundesbeauftragte die Abweisung der Klage in vollem Umfang. Er macht geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht verfolgungsmächtige Machtmonopole in Teilbereichen Afghanistans angenommen. Fehle es dort an einer staatlichen oder staatsähnlichen Hoheitsmacht, scheide auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG aus.

II.

Die Revision des Beteiligten ist überwiegend begründet. Soweit die Vorinstanzen dem Kl. Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG sowie nach § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art. 3 EMRK zugesprochen haben, sind ihre Entscheidungen wegen der Verletzung von Bundesrecht aufzuheben. Insoweit bleiben die Klage und die Berufung des Kl. erfolglos. Auf den im Rechtsschutzbegehren, des Kl. enthaltenen weiteren Hilfsantrag (vgl. BVerwG, EZAR 631 Nr. 44 = NVwZ 1997, 1132) ist die Bekl. zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu verpflichten. Insoweit ist die auf Abweisung der Klage insgesamt gerichtete Revision des Beteiligten nicht begründet.

Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kl. bei einer Rückkehr nach Afghanistan an Leib und Leben gefährdet wäre, weil er als ranghoher Offizier der Luftwaffe des früheren kommunistischen Regimes Nadschibullah und als Kampfpilot, der bis zu seiner Inhaftierung im Jahre 1990 an Einsätzen gegen die Mudjaheddin teilgenommen habe, bekannt sei. Er müsse damit rechnen, von allen lokalen und regionalen Machthabern verfolgt und gegenüber privaten Vergeltungs- oder Racheaktionen schutzlos gelassen zu werden. Aus diesen mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) folgt indessen noch nicht, daß der Kl. Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG oder auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art. 3 EMRK hat.

Ein Asylanspruch nach Art. 16a GG und ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG bestehen nur, wenn der Ausländer von politischer, d. h. staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung bedroht ist (vgl. BVerwGE 101, 328 = EZAR 200 Nr. 32; BVerwG, EZAR 231 Nr. 10). Ebenso kommt ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art. 3 EMRK nur dann in Betracht, wenn dem Ausländer im Zielland der angedrohten Abschiebung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch einen Staat oder eine staatsähnliche Organisation droht (vgl. BVerwG, EZAR 043, Nr. 21 = NVwZ 1997, 1127; BVerwGE 99, 331 = EZAR 043 Nr. 11). Davon ist das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen. Seine rechtlichen Ausführungen und Schlußfolgerungen dazu, daß sich in Afghanistan trotz des Fehlens einer gesamtstaatlichen Gewalt »weitgehend autonome Teilbereiche herausgebildet haben, in denen - wenn auch nur in regional begrenzter Form - staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt ausgeübt wird«, die zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts und zu unmenschlicher Behandlung im Sinne der angeführten Abschiebungsschutzbestimmungen fähig ist, stehen jedoch mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang in Einklang.

Soweit das Berufungsgericht annimmt, daß trotz der festgestellten Handlungsfähigkeit der zentral- oder gesamtstaatlichen Gewalt in Afghanistan noch eine »staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt« ausgeübt werde, ist unklar, ob darin zum Ausdruck kommen soll, die afghanische Regierung unter Präsident Rabbani sei Rechtsnachfolgerin der letzten gesamtstaatlichen kommunistischen Regierung unter Staatspräsident Nadschibullah und übe deshalb »staatliche« Gebietsgewalt aus. Gegen eine solche Sicht des Berufungsgerichts spricht allerdings seine Feststellung, die afghanische Regierung habe zunehmend ihre militärische und politische Handlungsfähigkeit verloren und nehme an dem Kriegsgeschehen nur als eine von mehreren um die Macht im Lande kämpfenden Bürgerkriegsparteien teil. Außerdem hat das Berufungsgericht festgestellt, daß Rabbani seinen Machtanspruch aus der Vereinbarung der sieben führenden Widerstandsorganisationen der Mudjaheddin vom April 1992 über die Bildung einer »Übergangsregierung« ableiten, daß sich diese Übergangsregierung jedoch von Anfang an weder auf alle Widerstandsgruppen stützen konnte noch jemals in der vereinbarten Weise zur Aufnahme der Regierungsgeschäfte und zur wirksamen Ausübung der Regierungsgewalt in der Lage war. Bereits am Tag der Vereinbarung brachen beim Einzug der rivalisierenden Mudjaheddin-Gruppen in Kabul heftige Kämpfe um die Vormachtstellung aus, welche letztlich zur Fortführung des Bürgerkriegs bis zum heutigen Tage führten. Eine von allen Mudjaheddin-Gruppen gebildete oder anerkannte Regierung, die als Rechtsnachfolgerin des gestürzten kommunistischen Regimes betrachtet werden könnte, hat es mithin nicht gegeben. Der Senat versteht deshalb die Ausführungen des Berufungsgerichts im Ergebnis dahin, daß in ganz Afghanistan spätestens seit dem Sturz des kommunistischen Regimes im April 1992 keine handlungsfähige Staats- oder Reststaatsgewalt mehr besteht, sondern allenfalls regional gewisse »staatliche Strukturen« - wie etwa aus früherer Zeit übernommene Verwaltungsbehörden - erhalten geblieben sind; eine andere Wertung ließen die festgestellten Tatsachen wohl auch nicht zu.

Selbst wenn das Berufungsgericht aber angenommen haben sollte, die Regierung Rabbani übe in ihrem Bereich entsprechend ihrem Machtanspruch, ihrem Selbstverständnis und wegen der von ihr fortgeführten diplomatischen Beziehungen (oder aufgrund einer etwaigen afghanischen Tradition, die Regierungsgewalt dem jeweiligen Herrscher in Kabul zuzuordnen) eine überkommene (Rest-)Staatsgewalt des in allen anderen Landesteilen handlungsunfähig gewordenen Staates Afghanistan aus, so könnte dies der revisionsrechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden. Die tatsächliche Grundlage einer derartigen Annahme wäre nämlich - wie mit den Beteiligten in der Revisionsverhandlung erörtert - jedenfalls nach dem Erlaß des Berufungsurteils mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban Ende September 1996 entfallen (zur Berücksichtigung derartiger allgemeinkundiger Tatsachen vgl. zuletzt BVerwGE 101, 328 = EZAR 200 Nr. 32). Für den Kl. besteht daher nicht die Gefahr, bei der Rückkehr in sein Heimatland von einer handlungsfähigen (Rest-) Staatsgewalt verfolgt zu werden.

Soweit das Berufungsgericht ferner angenommen hat, dem Kl. drohten jedenfalls Verfolgung und Mißhandlung durch staatsähnliche Organisationen, die sich inzwischen in allen Gegenden Afghanistans herausgebildet hätten, hat es einen bundesrechtlich nicht uneingeschränkt zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt. Das Berufungsgericht stellt für die Bestimmung eines Machtgebildes als staatsähnlich entscheidend darauf ab, ob neben dem Vorhandensein bestimmter organisatorischer Strukturen eine »übergreifende Friedensordnung« besteht. Diesem auf die Rechtsprechung des BVerfG gestützten Ansatz ist, wie der Senat zu früheren Entscheidungen des Berufungsgerichts ausgeführt hat (vgl. BVerwG, EZAR 231 Nr. 10), zwar mit der weiteren Überlegung zuzustimmen, daß eine zu politischer Verfolgung fähige staatsähnliche Herrschaftsmacht mehr voraussetzt als die Fähigkeit zu bloßer physischer Machtausübung mit Waffengewalt. Da die Fähigkeit zu politischer Verfolgung gleichsam die Kehrseite des staatlichen (Schutz- und) Gewaltmonopols darstellt, hat das Berufungsgericht der Sache nach zu Recht die Herstellung einer solchen, der staatlichen Friedensordnung ähnlichen Ordnung nach innen vorausgesetzt. Sein hierbei zugrunde gelegter Maßstab ist indessen zu wenig streng. Dem Bestehen einer abstrakten Rechtsordnung im Sinne übergreifender rechtlicher Regeln hat es ein zu starkes Gewicht für die Annahme einer staatsähnlichen Gewalt beigemessen. Es hat daneben zwar die Notwendigkeit einer nach innen und außen stabilisierten Gebietsherrschaft erkannt, diese aber zu gering gewichtet und deshalb zu Unrecht bejaht. Insoweit stimmt das Berufungsurteil nicht mit den bundesrechtlichen Anforderungen an staatsähnliche Organisationen überein, wie sie der Senat zuletzt - zeitlich nach der hier angegriffenen Entscheidung und deshalb vom Berufungsgericht noch nicht berücksichtigt -in den bereits zitierten Urteilen des BVerwG, EZAR 200 Nr. 32 und 231 Nr. 10 näher bestimmt und umschrieben hat. Quasi-staatlich ist eine Gebietsgewalt danach nur, wenn sie - ähnlich wie bei Staaten, die eine organisierte Herrschaftsmacht mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol auf einem begrenzten Territorium über ihre Bevölkerung effektiv und daherhaft ausüben - auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Effektivität und Stabilität erfordern eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates.

Dabei sind die Effektivität und die Stabilität regionaler Herrschaftsorganisationen in einem noch andauernden Bürgerkrieg besonders vorsichtig zu bewerten (BVerwG, EZAR 231 Nr. 10). Solange jederzeit und überall mit dem Ausbruch die Herrschaftsgewalt regionaler Machthaber grundlegend in Frage stellender bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden muß, kann sich eine dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren. So aber verhält es sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Afghanistan; keine der um die Macht über ganz Afghanistan fortwährend kämpfenden Bürgerkriegsparteien erfüllt hiernach die Anforderungen an eine staatsähnliche Organisation im Sinne der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Schon die Feststellung des Berufungsgerichts, es könne zwischen den einzelnen Territorien »erneut zu umfassenderen Konflikten mit der möglichen Folge des Untergangs eines gesamten Machtbereichs (wie dem des Kommandanten Isamil Khan)« kommen, schließt die Annahme einer stabilisierten und dauerhaften Ausübung von Gebietsgewalt aus.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts können die Anforderungen an die Stabilität und Dauerhaftigkeit einer sich unter Bürgerkriegsverhältnissen bildenden staatsähnliehen Gewalt nicht dadurch herabgesetzt werden, daß auf die allgemeinen völkerrechtlichen Kriterien für den Untergang von Staaten oder lediglich auf die Schutzbedürftigkeit der vom Bürgerkrieg betroffenen Personen abgestellt wird. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kommt es vielmehr darauf an, ob eine Erweiterung der in ihrem normativen Gehalt völkerrechtlich vorgeprägten Asylrechtsgarantie, die Schutz nur vor der Ausgrenzung aus der für eine menschenwürdige Existenz unentbehrlichen staatlichen Gemeinschaft bietet, gerechtfertigt ist. Das ist dann der Fall, wenn der einzelne nach den tatsächlichen Verhältnissen zwar nicht durch einen völkerrechtlich anerkannten Staat politisch verfolgt wird, aber durch eine sich an Stelle eines inzwischen untergegangenen oder handlungsunfähig gewordenen Staates bildende, ihn verdrängende oder ersetzende (staatsähnliche) Organisation. Entsprechendes gilt für die Ausdehnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK, der nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls grundsätzlich nur vor der Zufügung schwerer Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat schützt. Bei einem anhaltenden Bürgerkrieg erfordert dies, daß zwischenzeitlich entstandene Machtgebilde voraussichtlich von Dauer sein werden und Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen sind. Damit ist nur zu rechnen, wenn die Bürgerkriegsparteien nicht mehr unter Einsatz militärischer Mittel mit der Absicht, den Gegner zu vernichten, und mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet kämpfen, die Fronten also über längere Zeit hinweg stabil sind und allenfalls in Randbereichen noch gekämpft wird, im übrigen aber eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist (vgl. hierzu etwa die Ausführungen zum Bürgerkrieg in Bosnien in BVerwG, EZAR 200 Nr. 32).

Eine solche Lage besteht in Afghanistan nicht. Wie das Berufungsgericht festgestellt hat, streben sämtliche Bürgerkriegsparteien nach wie vor kompromißlos mit militärischen Mitteln die Machtübemahme im Gesamtstaat an. Eine Verständigung zwischen den Machthabern über eine friedliche Beendigung des Bürgerkriegs oder auch nur über einen dauerhaften Waffenstillstand hält das Berufungsgericht für »äußerst unwahrscheinlich«. Diese Prognose ist durch die späteren allgemeinkundigen Ereignisse, insbesondere durch den Vormarsch der Taliban und die bis heute andauernden Kämpfe um die Hauptstadt Kabul bestätigt worden. Die in einem gewissen Widerspruch hierzu stehende Auffassung des Berufungsgerichts, die Phase des umfassenden, das ganze Land ergreifenden Bürgerkriegs sei mit der weitgehenden Einstellung der Kampfhandlungen in den Provinzen und der Konzentration des Kampfgeschehens auf Kabul beendet, ist hingegen durch diese Ereignisse widerlegt worden.

Ebenfalls gegen die Annahme staatsähnlicher Gebietsgewalt spricht die Feststellung des Berufungsgerichts, daß alle derzeit in Afghanistan herrschenden Machthaber zur Aufrechterhaltung ihrer militärischen Herrschaft mehr oder minder auf autonome örtliche Kommandanten angewiesen sind, deren Loyalität zweifelhaft ist. Sie müssen hiernach ständig mit dem Abfall einzelner Orts- oder Regionalherrscher und mit entsprechendem Gebietsverlust rechnen. Außerdem kann es jederzeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kräften auf örtlicher oder regionaler Ebene kommen, wobei die Machthaber jeweils nur schlichtend und vermittelnd eingreifen können. Damit ist die Durchsetzung des für eine staatsähnliche Organisation unverzichtbaren territoralen Gewaltmonopols in Frage gestellt. Zwar mag es in den einzelnen Herrschaftsgebieten einen Gebietsrest geben, in dem die Herrschaft nicht mit lokalen Machthabern geteilt werden muß, sondern uneingeschränkt als Gebietsgewalt besteht. An der erwähnten Gefahr, daß einzelne der unabhängig agierenden Teilgebiete abfallen, ändert das aber nichts. Auch wenn in Afghanistan in der Vergangenheit kein bis in alle Winkel des Landes reichendes Gewaltmonopol bestanden haben sollte, besagt das nichts für die Staatsähnlichkeit der gegenwärtigen Machtgebilde. Was für anerkannte und etablierte Staaten unschädlich sein mag, kann der Beurteilung eines Machtgebildes als staatsähnlich durchaus im Wege stehen. Die vom Berufungsgericht für einzelne oder sämtliche Machtbereiche festgestellte Existenz von Rechtsordnungen und Verwaltungseinrichtungen sowie die Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage sind zwar wichtige Indizien für staatsähnliche Organisationen. Das Bestehen solcher Strukturen kann jedoch eine fehlende effektive und dauerhafte territoriale Gebietsgewalt nicht ersetzen.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann hiernach keinen Bestand haben, soweit dem Kl. Asyl nach Art. 16a GG und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt worden ist; im Ergebnis das gleiche gilt für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG iVm Art. 3 EMRK. Der Revision des Beteiligten ist insoweit stattzugeben.

Keinen Erfolg hat die Revision des Beteiligten hingegen, soweit sie der Klage auch hinsichtlich des Feststellungsbegehrens nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entgegentritt. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kl. bei seiner Rückkehr nach Afghanistan landesweit von allen Machthabern und von Privatpersonen mit Nachstellungen bis hin zu einer Tötung zu rechnen hat. Danach liegen in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 VwGO vor. Dabei handelt es sich auch nicht um eine allgemeine, der ganzen Bevölkerung oder bestimmten Bevölkerungsgruppen in Afghanistan etwa infolge des Bürgerkriegs drohende Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG sondern um eine den Kl. - namentlich wegen seiner herausgehobenen Stellung und Funktion als Kampfpilot - als Einzelperson konkret treffende Leibes- und Lebensgefahr (zur Abgrenzung vgl. BVerwGE 99, 324 = EZAR 046 Nr. 6). Die Bekl. ist deshalb, da der Senat insoweit in der Sache entscheiden kann (vgl. § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), zur Gewährung von Abschiebungsschutz durch Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu verpflichten.

Search Refworld

Countries