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In der Schweiz lebende Flüchtlinge haben ein Podium geschaffen, um ihre Rechte geltend zu machen.
Slahadin Romodan, ein 34-jähriger Eritreer, sitzt im eindrucksvollen, mittelalterlichen Rathaus von Bern – seit mehr als 600 Jahren der Machtsitz dieses Teils der Schweiz – und hat soeben zum ersten Mal in seinem Leben an einer Abstimmung teilgenommen.
«Es war eine grossartige Erfahrung», sagt er lächelnd.
Slahadin ist einer von über 90 Flüchtlingen aus der ganzen Welt, die heute in der Schweiz leben und sich Anfang Mai zum 2. Schweizer Flüchtlingsparlament getroffen haben. Das Flüchtlingsparlament bietet diesen Menschen die Möglichkeit, über Themen zu diskutieren, die ihnen am Herzen liegen, und ihrer Meinung Gehör zu verschaffen.
«Ich möchte an den Entscheidungen über meine Zukunft und die meiner Kinder teilhaben».
Slahadin lebt seit 2016 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Schweiz. Er absolviert eine Lehre als Pflegefachmann in einem lokalen Krankenhaus und schätzt das Leben, das er sich und seiner Familie hier aufbauen konnte. Für ihn bedeutet echte Integration jedoch, dass er das Gefühl hat, seine Stimme werde in der Schweizer Gesellschaft gehört.
«Solange ich in der Schweiz lebe, möchte ich an den Entscheidungen über meine Zukunft und die meiner Kinder teilhaben», sagt Slahadin.
Er und andere Flüchtlinge, die mit dem National Coalition Building Institute (NCBI), einer Schweizer NGO, zusammenarbeiten, trafen sich im vergangenen Jahr zum ersten Mal, um mit Unterstützung von UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sowie anderen Organisationen, das Flüchtlingsparlament zu gründen.
Ähnlich organisiert wie in einem ordentlichen Parlament werden die Teilnehmenden in Arbeitsgruppen eingeteilt und bereiten Vorschläge vor, die dann im Plenum vorgestellt und diskutiert werden und zur Abstimmung kommen. Im Laufe des Tages ergreifen die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitsgruppen das Wort. Jeder verteidigt seinen Vorschlag leidenschaftlich, bevor der Vorsitzende die Teilnehmenden zur Abstimmung aufruft – eine grüne Karte steht für «Ja», eine rote für «Nein».
Eine energische junge Frau in rotem Kleid und leuchtend rosafarbenem Hidschab läuft durch den Saal, um Fragen zu beantworten, Anweisungen zu geben und allfällige Probleme zu lösen. Es handelt sich um die 25-jährige Nahid Haidari aus Afghanistan, Mitorganisatorin des Flüchtlingsparlaments und eine der Gründerinnen. Sie lebt seit 2011 mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern in der Schweiz und sieht hier ihre Zukunft. «Ich bin Schweizerin», sagt sie stolz und verweist auf ihre zahlreichen, engen Schweizer Freunde in der Schule, die zu ihrem Zugehörigkeitsgefühl beigetragen haben.
Die Studentin zögert nicht, über die Schwierigkeiten zu sprechen, die sie als muslimische und Flüchtlingsfrau zu überwinden hatte. Sie ist entschlossen, anderen zu helfen, die mit ähnlichen Hindernissen konfrontiert sind, und glaubt, dass das Flüchtlingsparlament die Repräsentation der Flüchtlinge in der Schweizer Politik fördern kann.
«Bisher haben die Leute immer über uns gesprochen, nicht mit uns. Unsere Stimmen fehlen in der Debatte, da die politische Teilhabe, auch durch Wahlen, an rechtliche Verpflichtungen wie die Einbürgerung geknüpft ist», erklärt sie. «Ich hoffe, dass das Flüchtlingsparlament das Bewusstsein der Menschen stärken und die Meinung der Flüchtlinge sichtbar machen wird.»
Nachdem sich Slahadin im Namen seiner Arbeitsgruppe, die sich um Koalitionen mit anderen Organisationen bemüht, zu Wort gemeldet hat, spricht er ein Thema an, das ihm sehr am Herzen liegt: die Schwierigkeiten der Flüchtlinge beim Zugang zu höherer Bildung. Er hat in Äthiopien Psychologie studiert und würde gerne ein Postgraduiertenstudium absolvieren – doch es erwies sich als sehr schwierig für ihn, eine finanzielle Unterstützung für den Besuch einer Schweizer Universität zu erhalten. «Die Integration in der Schweiz ist nicht schwer. Problematisch sind die wenigen Möglichkeiten, die das Bildungssystem den Flüchtlingen bietet», erklärt er.
Nach einem langen Tag intensiver Diskussionen wurden die Teilnehmer aufgefordert, ihre zehn Hauptvorschläge zu bennen. Zu den ausgewählten Vorstössen gehören die Angleichung der Rechte aller Flüchtlinge in der Schweiz, die Übernahme der Kosten für behinderte Flüchtlinge durch die Versicherungen, der Zugang zu psychischen Gesundheitsdiensten während des Asylverfahrens und der gleichberechtigte Zugang zu Sprachkursen, Ausbildungen, Hochschulstudien und zum Arbeitsmarkt.
Im vergangenen Jahr haben einige der Geflüchteten das Schweizer Parlament besucht, um ihre Vorschläge einzubringen. Jedes Jahr besuchen auch Schweizer Parlamentarier die Veranstaltung in Bern, um direkt mit den Teilnehmenden in den Dialog zu kommen.
«Sie haben, als sie uns zum ersten Mal sahen, verstanden, dass hinter allen diesen Geschichten Menschen stehen und nicht nur Fragen zu den Ausweispapieren», stellt Nahid fest.
Durch das Interesse der Schweizer Medien an der Veranstaltung steigt die Chance, dass die Vorschläge auch die breite Öffentlichkeit erreichen.
Die Organisatoren haben für die Zukunft ambitionierte Pläne. Sie wollen einen bedeutungsvollen Austausch mit Parlamentariern über die Parteigrenzen hinweg fördern und in jedem Schweizer Kanton ein Flüchtlingsparlamente einrichten – ein wichtiger Schritt in einem föderalen Staat, in dem die politische Entscheidungsfindung dezentralisiert ist.
Die Veranstaltung wurde durch den neuen UNHCR-Fond für Organisationen, die von entwurzelten und staatenlosen Personen geführt werden, unterstütz.
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