Besondere Bedürfnisse können zum Beispiel entstehen, wenn jemand gefoltert oder vergewaltigt wurde oder Menschenhändlern zum Opfer fiel. Die Betroffenen sind oft traumatisiert und benötigen unter anderem psychologische Hilfe. Besondere Bedürfnisse haben aber auch Menschen mit Behinderungen oder Kinder, die alleine unterwegs sind. Es ist wichtig, solche Bedürfnisse rechtzeitig zu erkennen – damit die Betroffenen die notwendige Hilfe erhalten, aber auch, weil besondere Bedürfnisse relevant für den Ausgang des Asylverfahrens sein können. Aus diesem Grund ist die Schweiz auch völkerrechtlich verpflichtet, solche Bedürfnisse zu identifizieren und im Asylverfahren angemessen zu berücksichtigen. Dieser Pflicht kommt sie jedoch nur ungenügend nach, trotz erster Schritte zur Verbesserung. Rechtsexpertin Angela Stettler beleuchtet in ihrer Studie die Rechtslage und die Praxis, identifiziert Lücken und formuliert Empfehlungen.
Ihr Fazit: «Momentan hängt es weitgehend von den einzelnen Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM) sowie der Rechtsvertretung ab, ob Personen mit besonderen Bedürfnissen frühzeitig identifiziert werden. Standardabläufe und Handlungsvorgaben für das Verfahren gibt es grösstenteils nicht. Eine frühzeitige und umfassende Identifizierung aller Asylsuchenden mit besonderen Bedürfnissen und die anschliessende Gewährung des Zugangs zu den besonderen Rechten und Verfahrensgarantien gemäss völkerrechtlichen Vorgaben ist damit nicht gewährleistet. Dies erhöht auch das Risiko, dass nicht allen Asylsuchenden ein gleichwertiger Zugang zum Asylverfahren gewährt wird.»
Mit dem neuen Asylverfahren wurden zwar Verbesserungen eingeführt, namentlich bei der Betreuung unbegleiteter Kinder. Das neue Verfahren enthält aber auch Elemente, welche die rechtzeitige Identifizierung von Personen mit besonderen Bedürfnissen erschweren können. Dazu gehören die kurzen Fristen im beschleunigten Verfahren und der Wechsel der zuständigen Personen, mit der Gefahr eines daraus resultierenden Informationsverlustes im erweiterten Verfahren. Vor allem aber fehlt im schweizerischen Asylsystem eine systematische Identifizierung aller besonderen Bedürfnisse.
Instrumente nutzen und Standardabläufe festlegen
Die Studie enthält eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung. So empfiehlt die Autorin, vorhandene Instrumente zur Erfassung von Indikatoren zu nutzen, welche die Ermittlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen erleichtern. Ein solches Instrument hat das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) unter Mitwirkung von UNHCR entwickelt.
Daneben würden Standardabläufe zur Verbesserung beitragen. Hier spielt die Zusammenarbeit der involvierten Akteure eine zentrale Rolle. Zur Identifizierung können alle beitragen, wenn sie entsprechend geschult und verpflichtet werden, auf besondere Bedürfnisse zu achten: das Betreuungspersonal, das medizinische Personal, das Sicherheitspersonal, die Rechtsvertretung und die Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM). Damit keine Informationen verloren gehen, müssen alle wissen, an wen sie relevante Beobachtungen weiterleiten sollen. Standardabläufe würden auch gewährleisten, dass die Akteure richtig reagieren, wenn besondere Bedürfnisse identifiziert sind – dass die betroffene Person beispielsweise an eine spezialisierte Stelle weitergeleitet wird. Schliesslich könnte eine gezielte Information zu Verbesserungen führen. Bereits zu Beginn des Verfahrens sollten Asylsuchende Informationen zu besonderen Bedürfnissen und entsprechenden Verfahrens- und Aufnahmegarantien sowie zu Anlaufstellen erhalten. Asylgesuche von Personen mit besonderen Bedürfnissen sollten ausserdem prioritär behandelt werden.
Weitere Empfehlungen betreffen bestimmte besondere Bedürfnisse – beispielsweise jene, die aus erlittener Gewalt entstehen können. Handlungsbedarf in diesem Bereich hat auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrates erkannt: Sie will den Bundesrat mit einer Motion beauftragen, für eine schnellere Identifikation und eine bessere Unterstützung gewaltbetroffener Asylsuchender zu sorgen. Namentlich soll die Knappheit an spezialisierten psychologischen und insbesondere kinder- und jugendpsychiatrischen Angeboten behoben werden.
Die ganze Studie „Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen im neuen schweizerischen Asylverfahren – Problemaufriss und erste Empfehlungen“ finden Sie hier.