COVID-19: Vertriebene von sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise besonders betroffen

Die Anzeichen der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise auf Vertriebene sind überwältigend. Verstärkte Unterstützung und ihre Einbindung in Sozialsysteme ist dringend nötig.

Ein Kind geht durch ein Lager für Binnenvertriebene in der afghanischen Hauptstadt Kabul, Juli 2019. © UNHCR/Claire Thomas

Die Corona-Pandemie hat weltweit gravierende Auswirkungen auf das Sozialleben und die Wirtschaft. Die Wirtschaft kommt zum Erliegen, eine Vielzahl von Arbeitsplätzen und Lebensgrundlagen einer grossen Zahl an Menschen gehen verloren. Etliche Länder sind von dieser ernsthaften Situation im Bereich der öffentlichen Gesundheit betroffen. UNHCR ist beunruhigt über die zunehmend verzweifelte Lage der durch Konflikte und Gewalt Vertriebenen, insbesondere in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen, die derzeit mehr als 85 Prozent der Flüchtlinge weltweit beherbergen.

Die Anzeichen der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise auf Flüchtlinge sind überwältigend. Über 350.000 Anrufe von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen haben UNHCR und Partnerorganisationen seit März allein im Nahen Osten und in Nordafrika erhalten, als in vielen Ländern Ausgangssperren und andere Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit in Kraft getreten sind. Die Mehrheit bat um dringende finanzielle Unterstützung zur Deckung ihrer täglichen Grundbedürfnisse.

In den Nachbarländern Syriens leben mehr als 5,6 Millionen syrische Flüchtlinge. In Syrien selbst gibt es über 6 Millionen Binnenvertriebene. Viele davon brauchen dringend Unterstützung. Im Libanon, der vor der Pandemie mit einem wirtschaftlichen Abschwung konfrontiert war, gab mehr als die Hälfte der Ende April von UNHCR befragten Flüchtlinge an, ihren Lebensunterhalt, z.B. die tägliche Arbeit, verloren zu haben. Von den befragten Flüchtlingen berichteten 70%, dass sie auf Mahlzeiten verzichten müssen. Auch in anderen Ländern der Region, wie Ägypten, Irak und Jordanien, berichteten zahlreiche Flüchtlinge, dass sie ihre Haupteinnahmequelle verloren haben. In Jordanien sind geflüchtete Frauen erheblich von der Situation betroffen, da fast alle arbeitenden Frauen angaben, dass ihre Einkommensquellen durch COVID-19 beeinträchtigt sind.

Zu den Gruppen, die besonders von Armut und Ausbeutung bedroht sind, gehören von Frauen geführte Haushalte, unbegleitete oder von den Eltern getrenntlebende Kinder, ältere Menschen und LGBTI-Personen. Ihre Situation kann durch Nothilfe, insbesondere durch monetäre Unterstützung, verbessert werden.

In der Region laufen viele von ihnen Gefahr, ihre Unterkünfte zu verlieren, da finanzielle Mittel knapp werden. In Algerien, Ägypten, Irak, Libanon, Libyen, Mauretanien und Tunesien wurde über eine Zunahme von Delogierungen oder drohenden Delogierungen berichtet.

UNHCR ist besorgt, dass der Verlust von Arbeitsplätzen zu psychosozialen Problemen führt. In Jordanien berichten UNHCR-Partner von einem Anstieg der Nachfrage nach Beratungsangeboten für psychische und psychosoziale Gesundheit von über 50 Prozent.

In der benachbarten südwestasiatischen Region fällt es afghanischen Flüchtlingen und vulnerablen Mitgliedern der Aufnahmegemeinschaften, die aufgrund der wirtschaftlichen Situation ohnehin finanzielle Schwierigkeiten hatten, immer schwerer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Iran befinden sich knapp eine Million afghanische Flüchtlinge, von denen die Mehrheit Seite an Seite mit ihren Gastgeber*innen lebt und arbeitet und zunehmend in eine immense wirtschaftliche Notlage gerät.

Kinder waren bereits vor der Pandemie besonders gefährdet, denn jeder vierte afghanische Flüchtling gab an, Kinder aus der Schule nehmen zu müssen, und jeder fünfte musste Kinder aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage zum Arbeiten schicken. Die Auswirkungen auf die Zukunft der afghanischen Flüchtlingskinder sind bereits jetzt akut spürbar und werden sich, trotz lobenswerter und verstärkter Bemühungen der iranischen Regierung, von UNHCR und anderen humanitären Akteur*innen vor Ort, wahrscheinlich noch verschlimmern.

Die überwältigende Mehrheit der Afghan*innen im Iran, zu denen auch etwa 1,5 bis 2 Millionen Menschen ohne gültigePapiere gehören, ist für ihr Haupteinkommen auf instabile Quellen angewiesen, was sie angesichts einer wirtschaftlichen Krise äusserst verwundbar macht.

Lokalen Berichten zufolge haben etwa zwei Millionen Menschen im Iran aufgrund von COVID-19 ihre Arbeit verloren. Unsere Helplines erhalten immer mehr Anrufe, da immer mehr Flüchtlinge ihre Arbeit und ihr Einkommen verlieren. Die Flüchtlingsgemeinschaft zeichnet sich in dieser schwierigen Phase nach wie vor als besonders widerstandsfähig aus, die meisten berichten jedoch davon, dass sie sich nicht genügend Nahrungsmittel für die Versorgung ihrer Familien leisten können. Andere bitten um Hilfe bei der Bezahlung ihrer Miete, von medizinischen Behandlungen und Internetdiensten, damit Kinder weiterhin mittels E-Learning lernen können.

In Pakistan – dem zweitgrössten Flüchtlingsaufnahmeland der Welt – haben Afghan*innen aufgrund der allgemeinen Ausgangsbeschränkungen ihre einzige Einkommensquelle als Tagelöhner verloren. Zehntausende Flüchtlinge sind angesichts der Herausforderungen, denen sie als ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit schweren Krankheiten, alleinerziehende und gefährdete Frauen und Kinder ausgesetzt sind, besonders schutzbedürftig. Pakistan beherbergt nicht nur 1,4 Millionen registrierte afghanische Flüchtlinge, sondern auch 880.000 registrierte afghanische Migrant*innen und schätzungsweise 500.000 afghanische Staatsbürger*innen ohne Papiere.

Durch die Ausbreitung von COVID-19 ist Afghanistan mit der Überlastung der medizinischen und sozialen Dienste, der steigenden Zahl von Afghan*innen, die in ihre Heimat zurückkehren, mit Hunderttausenden Binnenvertriebenen und vermehrter Armut konfrontiert.

Unterdessen herrschen in Lateinamerika mehrere der weltweit grössten Vertreibungskrisen. Mehr als fünf Millionen Venezolaner*innen sind aus ihrem Land geflohen. Es gibt fast acht Millionen intern vertriebene Kolumbianer*innen, 340.000 Binnenvertriebene in Nord- und Mittelamerika und mehr als 100.000 nicaraguanische Flüchtlinge und Asylsuchende.

Die meisten Flüchtlinge und Asylsuchenden in Lateinamerika leben in städtischen Gebieten oder an den Grenzen. Viele arbeiten im informellen Sektor, oft ohne soziale Sicherheitsnetze. Ausgangsbeschränkungen haben zu einem plötzlichen Einkommensverlust geführt. Unseren Daten aus dem Jahr 2019 zufolge, gaben 80 Prozent der damals befragten venezolanischen Flüchtlinge und Migrant*innen an, dass sie ohne jegliche vertragliche Vereinbarungen arbeiteten, wobei viele zum Überleben von der informellen Wirtschaft abhängig seien.

Jetzt, da sie keine Miete zahlen und keine Lebensmittel oder Medikamente kaufen können, sind viele von Obdachlosigkeit bedroht oder werden bereits aus ihren Unterkünften vertrieben. Die Zahl der Obdachlosen und mittellosen Venezolaner*innen in Kolumbien, Brasilien, Ecuador, Peru, Chile und Argentinien nimmt von Tag zu Tag zu. Einige prostituieren sich oder betteln, um ihr Überleben zu sichern. Andere sind der Gefahr ausgesetzt, zur Beute von Schmugglern und illegalen bewaffneten Gruppen zu werden.

Mit wachsender Angst und sozialen Unruhen nehmen auch Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung in der gesamten Region zu. Flüchtlinge, die versuchen, auf der Strasse oder im informellen Sektor über die Runden zu kommen, sind oft nicht in der Lage, die Quarantänemassnahmen einzuhalten, und werden zum Sündenbock gemacht, stigmatisiert oder laufen Gefahr, inhaftiert zu werden.

In den letzten Wochen haben wir auch eine Reihe von Venezolaner*innen gesehen, die versuchen, in ihr Land zurückzukehren, da sie Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung und Gesundheitsversorgung nicht länger decken können. UNHCR setzt verstärkt Massnahmen, um die Auswirkungen von COVID-19 auf diese Bevölkerungsgruppe zu mildern, indem zusätzliche finanzielle Unterstützung bereitgestellt, die Kapazität an Unterkünften erhöht und mit Regierungen und Partnern an der Einbeziehung von Flüchtlingen und Migrant*innen in Sozialschutzsystemen gearbeitet wird.

Im Norden Mittelamerikas belasten die Folgen der Abriegelung in Verbindung mit zunehmender Gewalt und Erpressung durch bewaffnete Banden die Binnenvertriebenen und gefährdeten Gemeinden, von denen viele von informeller Arbeit und Gelegenheitsjobs leben. In Mexiko, wo 7.588 Flüchtlinge an einem Integrationsprogramm teilnehmen, das ihnen hilft, Arbeit in der formellen Wirtschaft zu finden, sind sie durch Massenentlassungen dem Risiko ausgesetzt, in die Armut abzugleiten.

Bei allen grösseren Flüchtlingsoperationen und trotz aller Herausforderungen arbeitet UNHCR daran, Nothilfe zu leisten. Dazu gehören neben finanzieller Unterstützung, die Schaffung sicherer Unterkünfte und die Einbeziehung der Flüchtlinge in nationale Gesundheitssysteme, in Sozialsysteme und in Nothilfemassnahmen. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um den am stärksten gefährdeten Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zu helfen, insbesondere dort, wo sie keinen Zugang zu staatlichen Sozialschutzsystemen haben. COVID-19 hat den weltweiten Bedarf an humanitärer Hilfe noch verschärft. Die rechtzeitige und flexible Unterstützung von Regierungen, des Privatsektors und von Einzelpersonen für die laufenden humanitären Operationen ist nach wie vor von entscheidender Bedeutung.