UNHCR-Debatte: „Aarau: Meine Heimat nach der Flucht?“

„Habt keine Angst. Afrikaner sind nette Leute!“

Mit diesem Satz und mit einem ermutigenden Lächeln beendete Yohannes Measho, anerkannter Flüchtling, Student und Mitgründer der „Eritreischen Bewegung für Gerechtigkeit“ die Podiumsdiskussion im Stadtmuseum Aarau. Ehrlicher hätte die geführte Debatte nicht auf den Punkt gebracht werden können.

Yohannes Measho vertrat auf dem Podium die Perspektive der eritreischen Gemeinschaft in Aarau. Seine Gesprächspartner waren Barbara Cavelti, Leiterin Integration beim Amt für Migration im Kanton Aargau, Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission und Franziska Hug, Bereichsleiterin Projekte und Bildung bei der Caritas Aargau. Lelia Hunziker, Geschäftsleiterin der Anlaufstelle Integration Aargau, stimmte die Zuhörerschaft mit pointierten einleitenden Bemerkungen auf die Debatte ein. Aargauer mit und ohne Fluchthintergrund haben die Diskussion im Publikum verfolgt und aktiv an der Schlussdiskussion teilgenommen.

Flüchtlinge, so wurde auch aus Publikumsbemerkungen deutlich, bedauern mangelndes Vertrauen und Offenheit vieler Einheimischer. Die Schweiz kann aber nur dann zur Heimat nach der Flucht werden, wenn ein Zusammenleben zwischen Flüchtlingen und Einheimischen von beiden Seiten furchtlos angegangen wird und wenn die Behörden bereit sind hierfür die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen. Flüchtlinge – und das sind für UNHCR auch vorläufig Aufgenommene – können nur so in der Schweiz ankommen.

Das beste Beispiel hierfür ist ein erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt. Werden Hürden abgebaut und mehr Betroffene ins Erwerbsleben eingeführt, kann dies einer Stigmatisierung entgegenwirken. Dies wiederum erleichtert das Zusammenkommen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen.

Institutionelle Rahmenbedingungen: Keine Ingenieurin als Putzkraft

Tatsächlich stellte die Integration in den Schweizer Arbeitsmarkt ein zentrales Thema dar. Im Kanton Aargau gibt es bereits heute ein Case Management-System, das Flüchtlingen den Weg ins Erwerbsleben ebnen soll. Zudem steht auf Bundesebene die Abschaffung der Bewilligungspflicht für die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit sowie die Ersetzung der „Vorläufigen Aufnahme“ durch einen Schutzstatus an.

Die Podiumsdiskussion zeigte aber dennoch deutlich, welche bürokratischen und institutionellen Hürden immer noch vorhanden sind. Die folgenden Vorschläge fanden beim Podium Zustimmung:

  • Ausländische Diplome werden schneller anerkannt. Falls Teile der Ausbildung nachgeholt werden oder einzelne Module ergänzt werden müssen, kann eine Kostendeckung für die ergänzende Bildung durch Bund oder Kanton zielführend sein. Eine sinnvolle und zukunftsorientierte Lösung schliesst in der Regel aus, dass die iranische Ingenieurin in der Schweiz als Putzkraft arbeiten muss.
  • Perspektiven werden geschaffen, indem undokumentierte Arbeitserfahrung auf andere Weise nachgewiesen werden kann. Wer keinen Lehrabschluss als Schreiner hat, aber nach jahrelanger Erfahrung im Beruf die für den Lehrabschluss erforderte Leistung erbringen kann, soll ein äquivalentes Zeugnis erhalten können.
  • Integrationsmassnahmen sind effizienter, wenn sie ab Tag 1 der Ankunft in der Schweiz zugänglich sind. Lange Wartezeiten führen zu Frustration und Isolierung der Betroffenen. Neu erlernte Sprach- oder Berufskenntnisse stellen im Fall eines negativen Entscheids und einer Wegweisung eine Resilienz stärkende Rückkehrhilfe dar, die die Wiedereingliederung im Herkunftsland erleichtern kann.
  • Kürzere Wartezeiten bis zum Asylentscheid tragen zu einer gelungenen Integration bei. Bis zum Asylentscheid sind Zukunftsperspektiven ungewiss. Dies ist für die Asylsuchenden eine grosse Belastung, die posttraumatische Belastungsstörungen verstärken kann. Dies ist einer erfolgreichen Integration hinderlich.
  • Ein Abbau von Bürokratie kann auch mentale Hürden abbauen. Vom Antrag auf Kantonswechsel aufgrund des neuen Jobs bis zu den Formalitäten für den subventionierten Platz im Sprachkurs: Ein Abbau von Bürokratie bedeutet nicht nur weniger Aufwand für das Ausfüllen komplexer Formulare, sondern kann zu einem entspannteren Verhältnis der Geflüchteten zum Schweizer Leben beitragen.

Barbara Cavelti vom Aargauer Amt für Migration wies darauf hin, dass der Staat verschiedene Interessen in Einklang bringen müsse: Hierzu gehörten integrationsfördernde Rahmenbedingungen für Flüchtlinge ebenso wie die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten: „Standards wie etwa der Mindestlohn wollen auch garantiert sein“.

Gesellschaftliches Engagement: Integration ist keine Einbahnstrasse

Die Integration in den Arbeitsmarkt ist ein zentraler Meilenstein, um Flüchtlingen ein würdevolles Leben in der Schweiz zu ermöglichen. Und auch die Aufnahmegesellschaft misst der Arbeitstätigkeit von Flüchtlingen eine entscheidende Rolle zu. Dennoch kann die Erwerbstätigkeit nicht isoliert betrachtet werden. Denn ein erfolgreicher Eintritt ins Arbeitsleben bedarf  auch der Unterstützung und Vernetzung durch ebendiese Gesellschaft. „Die Gesellschaft muss ihren Beitrag leisten“, so Franziska Hug von der Caritas. Integration ist keine Einbahnstrasse.

Von den Dikussionsteilnehmenden wurden insbesondere die folgenden Punkte hervorgehoben:

  • Bestehende einheimische Netzwerke haben eine wichtige Rolle. Ein selbstverständlicherer Zugang für Flüchtlinge zum Turnverein etwa, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.
  • Die Freiwilligenarbeit leistet grossartige Arbeit im Bereich Integration. Ein Beispiel dafür ist etwa die Koordinationsstelle für Freiwilligenarbeit der Stadt Aarau. Sie ist Drehscheibe für die Vermittlung von Freiwilligeneinsätzen und Plattform für Organisationen, die Freiwilligenarbeit anbieten. Gleichzeitig ist sie auch Koordinations-, Informations- und Förderstelle für Angebote im Asylbereich.
  • Die Freiwilligenarbeit braucht mehr finanzielle und strukturelle Unterstützung vonseiten der Behörden. Freiwillige können in verschiedenen Kontexten eine wichtige Funktion einnehmen. Wichtig hierfür sind auf ihre Aufgaben zugeschnittene Coachings und breite Anerkennung ihrer Arbeit.
  • Die Freiwilligenarbeit darf nicht zum Ersatz für staatliche Leistungen werden. Der Staat kann seine Verantwortlichkeiten und rechtlichen Verpflichtungen nicht auf Private abwälzen.
  • Eine Professionalisierung der sozialen Integration ist ein vielversprechender Ansatz. Eine Voraussetzung für soziale Integration ist Partizipation. Flüchtlinge sollen mitsprechen, mitgestalten und mitentscheiden können und so Teil der Gesellschaft werden. Der Zugang zu Partizipationsmöglichkeiten wiederum, kann von Staat und Kanton durch die Förderung gezielter Projekte in diesem Bereich erleichtert werden. Das EKM-Projekt „Citoyenneté“ nimmt hier eine Vorbildfunktion ein.
  • Einheimische Bezugspersonen können die Integration erleichtern. Das Zurechtfinden in der neuen Heimat und die Integration in eine fremde Gesellschaft kann durch eine Person des Vertrauens vereinfacht werden. Es wäre denkbar, hierfür ein „Tandem“-Modell zu erarbeiten und zu institutionalisieren.
  • Perspektiven schaffen, auch für jugendliche Flüchtlinge über 18 Jahren, ist unerlässlich. Schulabschluss und Lehrausbildung sollen bis Ende 20er leicht zugänglich sein. Eine pädagogische Betreuung trotz Volljährigkeit sollte bei Bedarf in Anspruch genommen werden können.

Die Schweiz als Migrationsland

Eine einleitende Kernaussage von Lelia Hunziker prägte den Grundton und die Schlussfolgerung der Debatte: „Die Schweiz hat schon lange Migrationsvordergrund.“ Diese Feststellung blieb bei den Podiumsteilnehmenden unangefochten: Die Schweiz steht nicht vor einer vollständig neuen Herausforderung. Und Integration ist kein Kraftakt, sondern ein Prozess der von keiner Gesellschaft je vollständig abgeschlossen wird. „Integration ist die Verständigung darüber, wie wir miteinander leben,“ so Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission.

Schliesslich brachte die Diskussion auch viel Optimismus und Tatendrang zu Tage: Flüchtlinge sollen, wollen, müssen ihren Integrationsprozess aktiv mitgestalten. Behörden und Zivilgesellschaft können die dafür benötigten Rahmenbedingungen und Hilfen schaffen. Zögern ist keine gute Option. Angst noch viel weniger.

Es diskutierten:

 

Barabara Cavelti – Leiterin Integration, Amt für Migration, Kanton Aargau

Walter Leimgruber – Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission

Franziska Hug – Bereichsleiterin Projekte und Bildung Caritas Aargau

Yohannes Measho – Mitgründer der „Eritreischen Bewegung für Gerechtigkeit“

Einleitende Bemerkungen von:

Lelia Hunziker – Geschäftsleiterin der Anlaufstelle Integration Aargau

Studie Arbeitsmarktintegration

Der vorliegende Bericht, der auf einem Projekt mit der Hochschule Luzern basiert, bietet einen Einblick in die Thematik aus der Perspektive der Betroffenen.