Von Syrien in die Schweiz – ohne Staatsangehörigkeit

Wie viele Ajanib in Syrien war Tofik Mussa in seinem Land nicht als Bürger anerkannt. Erst nach mehreren Jahren in der Schweiz erhielt er zum ersten Mal in seinem Leben einen offiziellen Ausweis.

Tofik, geborener Ajanib, wurde wie viele Kurden in Syrien nicht als Bürger anerkannt. Die Staatenlosigkeit führte ihn dazu, sein Land für die Schweiz zu verlassen, wo er zum ersten Mal einen offiziellen Ausweis erhielt. © UNHCR/Mark Henley

Ins Flugzeug steigen und eine SIM-Karte kaufen – für die meisten Menschen sind dies unspektakuläre, fast banale Tätigkeiten. Nicht aber für Tofik Mussa, der beides zum ersten Mal mit 36 Jahren tat. Erst 2016 erhielt der Kurde aus Syrien seine offiziellen Ausweispapiere: einen grünen Pass für ausländische Personen, der vom Staatssekretariat für Migration (SEM) ausgestellt wurde. Denn Tofik ist staatenlos, was bedeutet, dass kein Staat ihn als seinen Staatsangehörigen anerkennt.

Es wird angenommen, dass es weltweit rund 10 Millionen Staatenlose gibt. Dieser Status kann von der Auflösung eines Staates herrühren, in vielen Fällen jedoch ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe die Ursache. Die Rohingya in Myanmar – Muslime, die 2017 zu Hunderttausenden nach Bangladesch flohen – sind heute bedauerlicherweise ein weltweit bekanntes Beispiel.

Auch die Kurden Syriens sind besonders stark betroffen. 1962 verloren über 100’000 von ihnen die syrische Staatsangehörigkeit. Deshalb konnten sie nicht ins Ausland reisen und gewisse Tätigkeiten, wie zum Beispiel der Kauf einer Immobilie, wurden ihnen verwehrt. In Syrien unterscheidet man zwischen „Ajanib“, registrierten Ausländern, und „Matktumin“, die behördlich nicht erfasst sind. 2011 konnte zwar den Ajanib durch einen Präsidialerlass der Erwerb der syrischen Staatsbürgerschaft erleichtert werden. Doch beinahe 200’000 Kurden aus Syrien sind weiterhin staatenlos.

 

Switzerland. Tofik a stateless Kurdish Syrian building a life in Zurich

Eine SIM-Karte zu kaufen ist eine banale Tätigkeit für die meisten Menschen. Da er keinen Ausweis besaß, konnte Tofik dies jedoch erst mit 36 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben machen. © UNHCR/Mark Henley

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Seine mehrmonatige gefährliche Reise zu Fuß und mit dem Auto führte ihn im Dezember 2010 schließlich nach Basel, wo er einen Asylantrag stellte. © UNHCR/Mark Henley

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Nach der vorläufigen Aufnahme verbrachte er mehrere Jahre im Kanton Freiburg, in Estavayer-le-Lac, in Bulle und im Hauptort Freiburg, wo er Französisch lernte. © UNHCR/Mark Henley

 

Tofik, ein geborener Ajanib, wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Qamischli, der Hauptstadt der Region des syrischen Kurdistans, auf. Nach seinem Schulabschluss erhielt er das Recht, an der Universität Damaskus zu studieren. Er entschied sich für ein Journalistik-Studium, obwohl er wusste, dass er diesen Beruf aufgrund seiner Staatenlosigkeit nie würde ausüben können.

Er erinnert sich gerne an diese Zeit, vor allem an die Abende, die er mit kurdischen Freunden verbrachte. Doch sein Status war ständig ein Anlass für Demütigungen und wiederkehrende Probleme: Wenn ich in einer anderen Stadt war und im Hotel übernachten wollte, musste ich zuerst eine Erlaubnis bei der Polizei einholen“, erzählt er.

Wenn ich in einer anderen Stadt war und im Hotel übernachten wollte, musste ich zuerst eine Erlaubnis bei der Polizei einholen.“

Tofik, aufgrund seiner Staatenlosigkeit sah er sich vieler Rechte beraubt

 

Ein Ereignis im Jahr 2008 hinterließ tiefe Spuren und veranlasste ihn dazu, das Land zu verlassen: Während seines Studiums war er in Teilzeit Assistent an der Universität Damaskus. Ein Kollege hörte, wie er sich mit einem anderen kurdischen Kollegen in seiner Muttersprache Kurmandschi unterhielt. Dies war in öffentlichen Einrichtungen de facto verboten. „Er hat gedroht, uns zu melden. Und auch wenn er es letztlich nicht getan hat, war dies der Augenblick, in dem ich beschlossen habe, wegzugehen. In Syrien hatte ich keine Zukunft.“

Doch es dauerte noch zwei Jahre, bis sich Tofik auf die mehrmonatige gefährliche Reise zu Fuß und mit dem Auto machte, bis er im Dezember 2010 schließlich in Basel ankam, wo er einen Asylantrag stellte. Nach der vorläufigen Aufnahme verbrachte er mehrere Jahre im Kanton Freiburg, in Estavayer-le-Lac, in Bulle und im Hauptort Freiburg, wo er Französisch lernte. Durch Vermittlung von kurdischen Bekannten fand er Arbeit in einem Restaurant.

2015 beantragte Tofik die Anerkennung seiner Staatenlosigkeit beim SEM. Auf diesen Antrag hin erhielt er seinen grünen Pass für ausländische Personen. Mit diesem Ausweis konnte er legal ausreisen, einen Flug buchen und zum ersten Mal seit er Syrien verlassen hatte, seine Mutter in der Türkei besuchen. Diese offizielle Anerkennung genügt allerdings nicht, um das Gefühl, am Rande der Gesellschaft zu leben, vollständig auszulöschen: „Als ich am Flughafen in Istanbul ankam, wurde ich vom türkischen Personal lange ausgefragt, weil sie meinen grünen Reisepass nicht kannten. Die anderen Passagiere blickten mich misstrauisch an: Ich fühlte mich immer noch wie ein Verbrecher“, erinnert er sich.

 

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2015 beantragte Tofik die Anerkennung seiner Staatenlosigkeit beim SEM. Auf diesen Antrag hin erhielt er seinen grünen Pass für ausländische Personen, mit dem er unterdessen legal reisen kann. © UNHCR/Mark Henley

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Diese offizielle Anerkennung genügt allerdings nicht, um das Gefühl, am Rande der Gesellschaft zu leben, vollständig auszulöschen. Da das Problem der Staatenlosigkeit vielen nicht geläufig ist, erlebt er oft überraschte und verständnislose Reaktionen. © UNHCR/Mark Henley

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Optimistisch gestimmt sagt Tofik abschließend: „Auch in der Schweiz bleibe ich Ajanib und staatenlos. Aber meine Kinder könnten eines Tages das Schweizer Bürgerrecht erhalten. Ich bin erleichtert, wenn ich daran denke, dass sie nicht die gleichen Probleme haben werden wie ich.“ © UNHCR/Mark Henley

 

Ein anderes Beispiel: Auf seinem Führerschein stehen anstatt der Nationalität einfach Kreuze. Obwohl Tofik erleichtert ist, dass er diese Anerkennung erhalten hat, kann er nicht verbergen, dass er davon träumt, eine Staatsangehörigkeit zu erhalten: „Egal welche, wenn nur irgendwas anstelle des Wortes ‚staatenlos‘ in meinem Pass steht.“

Nach seiner Anerkennung durch das SEM beschloss Tofik, sich in Wädenswil in der Nähe von Zürich niederzulassen, wo er nun Deutsch lernt. Warum hat er eine Region verlassen, deren Sprache er gelernt hat, um in eine andere Stadt zu ziehen? „Auch wenn ich wieder von vorne anfangen musste, wollte ich noch etwas anderes sehen, jetzt, wo ich endlich das Recht habe, dahin zu gehen, wo ich will.“

„Meine Kinder könnten eines Tages das Schweizer Bürgerrecht erhalten. Ich bin erleichtert, wenn ich daran denke, dass sie nicht die gleichen Probleme haben werden wie ich.“

Tofik blickt dank des ausländischen Passes gelassener in die Zukunft

 

Sein Ziel ist es nun, einen Platz für die dreijährige Ausbildung zum Sozialarbeiter zu finden. „Ich möchte Menschen helfen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten wie ich zu kämpfen haben.“ Und warum nicht eine Familie gründen? „Auch in der Schweiz bleibe ich Ajanib und staatenlos. Aber meine Kinder könnten eines Tages das Schweizer Bürgerrecht erhalten. Ich bin erleichtert, wenn ich daran denke, dass sie nicht die gleichen Probleme haben werden wie ich.“

Mehr zum Thema: Lesen Sie unseren Bericht zur Staatenlosigkeit in Österreich.