Eine spezielle Gesundheitseinrichtung für Flüchtlinge und Migranten

Im Kanton Waadt gibt es seit den 90er Jahren ein Gesundheitsversorgungssystem für Asylsuchende. Ärzte, Pflegekräfte und administrative Mitarbeitende arbeiten eng zusammen, um diese Menschen angemessen zu versorgen.

Im Kanton Waadt gibt es seit den 90er Jahren ein Gesundheitsversorgungssystem für Asylsuchende. Medhin, eine 32-jährige eritreische Flüchtlingsfrau, hat seit ihrer Ankunft in der Schweiz im Jahr 2014 vom Programm profitiert. © UNHCR/Mark Henley


Der Kanton Waadt nimmt jedes Jahr 8,4 Prozent der in die Schweiz einreisenden Asylsuchenden auf und beherbergt derzeit fast 5’500 Asylsuchende. Um ihren medizinischen Bedürfnissen besser gerecht zu werden, wurde im Kanton Waadt ein innovatives Versorgungsmodell entwickelt: Das Netzwerk RESAMI (Réseau de santé et migration), das aus die Unité de Soins aux Migrants (USMi) und 170 Ärztinnen und Ärzten im ganzen Kanton besteht.


 

Die USMi gehört zum Département Vulnérabilités et médecine Sociale (DVMS) des Lausanner Universitätszentrums für Allgemeinmedizin und des Gesundheitswesens Unisanté und bildet das Eingangstor zu diesem Gesundheitssystem. Die Besonderheit der USMi beruht auf der Interdisziplinarität ihres Teams und ihres „RESAMI“-Netzwerkes. Dieses bringt Pflegekräfte, Allgemeinmediziner und Fachärzte – aus der Psychiatrie, der Pädiatrie und dem Bereich der Gesundheit von Müttern – sowie Verwaltungsteams und interkulturelle Dolmetscher zusammen. „Es handelt sich nicht nur um ein Konzept oder eine Kommunikationsformel“, betont Prof. Patrick Bodenmann. „Um einen Patienten zu behandeln, ist es wichtig, ihn als Ganzes zu betrachten. Man muss sowohl für sein körperliches als auch sein psychisches Leiden offen sein.“

„Es handelt sich nicht nur um ein Konzept oder eine Kommunikationsformel. Um einen Patienten zu behandeln, ist es wichtig, ihn als Ganzes zu betrachten. Man muss sowohl für sein körperliches als auch sein psychisches Leiden offen sein.“

Prof. Patrick Bodenmann

 

Prof. Bodenmann, Chefarzt des DVMS, und Dr. Javier Sanchis Zozaya, transkultureller Psychiater der USMi, setzen sich mit Leib und Seele dafür ein, dass ihren Patienten eine am Menschen orientierte Medizin geboten wird, die die besonderen Bedürfnisse jedes einzelnen berücksichtigt.

„Bei jeder Ankunft beurteilen unsere Teams den allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten, sie nehmen Impfungen vor und kümmern sich um Prävention und Gesundheitsförderung. Wir befragen die Personen auch zu ihrer Krankengeschichte und verweisen sie an Spezialisten, während wir sie weiterhin betreuen.“ Dank dieser Vorgehensweise können sowohl psychische als auch physische Erkrankungen diagnostiziert werden. So haben die Mitarbeiter der USMi, die in der Versorgung von Migranten und Flüchtlingen ausgebildet wurden, in den letzten drei Jahren über 30’000 medizinische Leistungen erbracht.

 

Switzerland. Innovating to provide comprehensive health care for refugees and migrants

Die Besonderheit der USMi beruht auf der Interdisziplinarität ihres Teams und ihres „RESAMI“-Netzwerks, das Pflegekräfte, Allgemeinmediziner und Fachärzte, Verwaltungsteams und interkulturelle Dolmetscher zusammenbringt. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Innovating to provide comprehensive health care for refugees and migrants

Ärzte, Pflegekräfte und administrative Mitarbeitende arbeiten eng zusammen, um diese Menschen angemessen zu versorgen. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Innovating to provide comprehensive health care for refugees and migrants

Durch diese Aktivitäten können sowohl psychische als auch physische Erkrankungen diagnostiziert werden. So haben die Mitarbeiter der USMi in den letzten drei Jahren über 30'000 medizinische Leistungen erbracht. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Innovating to provide comprehensive health care for refugees and migrants

Medhin bekräftigt den Nutzen dieses Programms: „Nach Monaten und Jahren im Exil, ohne regelmässigen Zugang zur Gesundheitsversorgung und ohne zu wissen, welche Krankheiten man sich vielleicht eingefangen hatte, war der Gesundheitscheck eine grosse Erleichterung. So konnte ich Bilanz ziehen und über die Schwierigkeiten sprechen, die unterwegs aufgetreten waren.“ © UNHCR/Mark Henley

 

Medhin, eine 32-jährige eritreische Flüchtlingsfrau, bekräftigt den Nutzen dieses Programms, von dem sie seit ihrer Ankunft in der Schweiz im Jahr 2014 profitiert hat: „Nach Monaten und Jahren im Exil, ohne regelmässigen Zugang zur Gesundheitsversorgung und ohne zu wissen, welche Krankheiten man sich vielleicht eingefangen hatte, war der Gesundheitscheck eine grosse Erleichterung. So konnte ich Bilanz ziehen und über die Schwierigkeiten sprechen, die unterwegs aufgetreten waren, wie die Entbehrungen und Gewaltakte, die viele Menschen in Libyen erleiden.“

„Nach Monaten und Jahren im Exil, ohne regelmässigen Zugang zur Gesundheitsversorgung und ohne zu wissen, welche Krankheiten man sich vielleicht eingefangen hatte, war der Gesundheitscheck eine grosse Erleichterung.“

Medhin, 32-jährige eritreische Flüchtlingsfrau

 

Die USMi-Teams sind insbesondere beim Screening von psychiatrischen Störungen effizienter geworden. So würden rund 40 Prozent der Neuankömmlinge an psychischen Problemen, beispielsweise an mittelgradiger Depression, leiden. Die wahrnehmbaren Symptome sind auf den ersten Blick oft verwirrend: „Die Patienten können unsoziale Verhaltensweisen wie hohe Reizbarkeit, Sucht oder sozialen Rückzug zeigen“, sagt Javier Sanchis Zozaya. „Sie können auch Misstrauen gegenüber anderen entwickeln, weil familiäre und soziale Bindungen durch das Exil zerstört wurden.“

 

Das Vertrauen steht an erster Stelle

Die Monate des Exils bringen vielfältige Formen des Leidens mit sich, die die medizinischen Fachkräfte erst entschlüsseln müssen, um ein überzeugendes Ergebnis zu gewährleisten. „Ein junger Guineer wies alle Symptome eines depressiven Zustands auf. Als ein Vertrauensverhältnis aufgebaut war, verstanden wir, dass er vor allem das Bedürfnis hatte, um seine Eltern zu trauern – es lag also keine krankhafte Störung vor.“

„Ein junger Guineer wies alle Symptome eines depressiven Zustands auf. Als ein Vertrauensverhältnis aufgebaut war, verstanden wir, dass er vor allem das Bedürfnis hatte, um seine Eltern zu trauern – es lag also keine krankhafte Störung vor.“

Dr. Javier Sanchis Zozaya, transkultureller Psychiater

 

Patrick Bodenmann pflichtet seinem Kollegen bei und nennt als weiteres Beispiel eine Situation im Zusammenhang mit der Ankunft von Flüchtlingen aus dem Balkan: „Eine Gruppe von etwa zehn Bosnierinnen kam zu uns in die Sprechstunde. Die Frauen sagten, sie hätten ‘körperliche Schmerzen’.“ Die Ärzte vermuteten eher ein psychisches Problem und waren zunächst ratlos, bis ihnen auffiel, dass alle Frauen einen Schleier trugen. „Da haben wir endlich verstanden, dass sie in Wirklichkeit aufgrund von Sonnenmangel an Vitamin-D-Mangel litten“, so der Professor.

Auch hier bestätigt Medhin die Qualität der Unterstützung durch das USMi-Team, mit dem sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Da sie sich vor ihrer Einreise in die Schweiz in anderen Dublin-Staaten aufgehalten hatte, erhielt sie zunächst einen Nichteintretensentscheid, und die daraus resultierende immense Unsicherheit wirkte sich auf ihre Psyche aus. Medhin wurde daraufhin kurzzeitig wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt. Die Unterstützung, die sie dabei erfuhr, trug entscheidend dazu bei, dass sie die Hoffnung nicht aufgab: „Es gibt keine bessere Therapie als eine persönliche und menschliche Betreuung: Nicht die Medikamente haben mich damals geheilt, sondern die moralische Unterstützung der USMi-Teams in dieser Zeit grosser Unsicherheit. Wie erleichtert war ich dann, einen klaren Status zu erhalten.“

Die Qualität der Bindung und die Möglichkeit, jeden Patienten individuell zu betreuen, sind wichtige Aspekte des Waadtländer Systems. So bemühen sich die Teams auch darum, die Kultur und die religiösen Überzeugungen ihrer Patienten zu berücksichtigen, um ihren Zugang zur Pflege zu verbessern.

„Eine Gruppe von etwa zehn Bosnierinnen kam zu uns in die Sprechstunde. Die Frauen sagten, sie hätten ‘körperliche Schmerzen’. Die Ärzte waren zunächst ratlos, bis ihnen auffiel, dass sie in Wirklichkeit aufgrund von Sonnenmangel an Vitamin-D-Mangel litten.“

Prof. Patrick Bodenmann

 

 

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„Um einen Patienten zu behandeln, ist es wichtig, ihn als Ganzes zu betrachten. Man muss sowohl für sein körperliches als auch sein psychisches Leiden offen sein“, betont Prof. Patrick Bodenmann. © UNHCR/Mark Henley

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„Die Patienten können unsoziale Verhaltensweisen wie hohe Reizbarkeit, Sucht oder sozialen Rückzug zeigen», sagt Javier Sanchis Zozaya, transkultureller Psychiater. «Sie können auch Misstrauen gegenüber anderen entwickeln, weil familiäre und soziale Bindungen durch das Exil zerstört wurden.“ © UNHCR/Mark Henley

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Die Monate des Exils bringen vielfältige Formen des Leidens mit sich, die die medizinischen Fachkräfte erst entschlüsseln müssen, um ein überzeugendes Ergebnis zu gewährleisten. So würden rund 40 Prozent der Neuankömmlinge an psychischen Problemen, beispielsweise an mittelgradiger Depression, leiden. © UNHCR/Mark Henley

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Medhin bestätigt die Qualität der Unterstützung durch das USMi-Team, mit dem sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. © UNHCR/Mark Henley

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Nachdem ihr Mann zu Beginn des Jahres im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihr gestossen ist, blickt sie nun optimistisch in die Zukunft, ohne Angst vor Unsicherheit oder Depressionen. © UNHCR/Mark Henley

 

Ein dauerhaftes Engagement

Der tägliche Umgang mit den Leidensgeschichten von Flüchtlingen verlangt dem Pflegepersonal eine hohe Einsatzbereitschaft und viel Hingabe ab. Es ist dabei auch der Gefahr emotionaler Erschöpfung ausgesetzt. Daher treffen sich die Teams einmal im Monat, um über die Patienten, aber auch über das zu diskutieren, was sie in ihrem medizinischen Bereich bewegt, der oftmals wenig Anerkennung erfährt. „Das Waadtländer System wird auf nationaler Ebene oft als gutes Beispiel angeführt“, so Patrick Bodenmann, der Lausanner Medizinstudenten vom ersten Studienjahr an unterrichtet. „Dass es reibungslos funktioniert, zeigte sich vor allem während der Migrationskrise 2015.“

Damals stieg die Zahl der Ankünfte von den 80 bis 100, die das Team normalerweise zu betreuen hat, auf 300 bis 400 Personen pro Monat an. Daraufhin aktivierte die USMi schnell einen „Notfallmodus“: Sie teilte ihre Mitarbeitenden in zwei Gruppen auf und arbeitete direkt in den Unterkünften. „Diese Reaktionsfähigkeit zeigt die Qualität unserer Betreuung. Sie bestätigte auch unseren auf eine ganzheitliche, integrative Medizin ausgerichteten Ansatz.“

Dieses System, das 2016 von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ausgezeichnet wurde, wird heute durch die öffentliche Hand unterstützt. Dies ist für ein langfristiges Engagement der beteiligten Akteure unerlässlich. Das Gesundheitsteam arbeitet daher mit der Gewissheit, dass sein in den letzten zwei Jahrzehnten optimiertes Modell heute in der kantonalen Praxis gut verankert ist. Inspiriert von den in den USA entwickelten Methoden, hat Professor Patrick Bodenmann heute den einzigen Lehrstuhl für Medizin für vulnerable Populationen in der Schweiz und einen der wenigen auf europäischer Ebene inne. Der Erfolg dieses Systems zeigt sich schliesslich in der wachsenden Nachfrage: Seine Dienstleistungen wurden im September 2019 auf die Opfer von Menschenhandel ausgeweitet und werden bis 2020 auch auf anerkannte Flüchtlinge ausgedehnt, die bisher nach der Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus nicht mehr von dieser speziellen Gesundheitsversorgung profitieren konnten.

Medhin, die heute den Flüchtlingsstatus besitzt und im Rahmen eines OSEO-Integrationsprogramms im Reinigungssektor arbeitet, ist ein gutes Beispiel dafür, wie das tägliche Engagement der medizinischen Teams etwas bewirken kann. Nachdem ihr Mann zu Beginn des Jahres im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihr gestossen ist, blickt sie nun optimistisch in die Zukunft, ohne Angst vor Unsicherheit oder Depressionen.


Einen verbesserten Zugang zu nationalen Infrastrukturen wie der Gesundheitsversorgung gehört zu den sechs wichtigsten Zielen des ersten Globalen Flüchtlingsforums.