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2009/21/0080

Publisher Austria: Constitutional Court of Austria (Verfassungsgerichtshof)
Publication Date 29 September 2009
Cite as 2009/21/0080, Austria: Constitutional Court of Austria (Verfassungsgerichtshof), 29 September 2009, available at: https://www.refworld.org/cases,AUT_FCCA,58c2819c4.html [accessed 1 November 2019]
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Gericht

Verwaltungsgerichtshof (VwGH)

Entscheidungsart

Erkenntnis

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Geschäftszahl

2009/21/0080

Entscheidungsdatum

29.09.2011

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;

19/05 Menschenrechte;

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

MRK Art8;

NAG 2005 §11 Abs2 Z4;

NAG 2005 §11 Abs3;

NAG 2005 §11 Abs5;

NAG 2005 §47 Abs3 Z3;

VwGG §42 Abs2 Z1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des S, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 1. Dezember 2008, Zl. 152.756/2- III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Namen des Landeshauptmannes von Tirol ergangenen Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 17. September 2008 wurde der am 11. März 2008 beim Österreichischen Generalkonsulat Hamburg gestellte Antrag des Beschwerdeführers, eines aus Tschetschenien stammenden russischen Staatsangehörigen, auf "Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung im Wege der Familienzusammenführung" mit seiner in Österreich als Flüchtling anerkannten Ehefrau gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) abgewiesen.

Das begründete die Erstbehörde lediglich damit, dass nach der zitierten Gesetzesstelle Aufenthaltstitel nur erteilt werden dürften, wenn der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Aufgrund des Bezuges von Grundsicherung (durch die Ehefrau des Beschwerdeführers) sei allerdings nicht davon auszugehen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers nicht zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen würde. Daher sei der Antrag im Sinne der angeführten Bestimmung abzuweisen.

In der dagegen vom Beschwerdeführer selbst verfassten Berufung brachte er vor, diese ablehnende Entscheidung berücksichtige nicht die besondere Härtefallsituation seiner Familie. Sie seien Flüchtlinge aus Tschetschenien. Seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder hätten in Österreich eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention erhalten, der Beschwerdeführer sei in Deutschland als Flüchtling anerkannt worden. Eine Ablehnung des Antrages auf Familienzusammenführung würde eine dauerhafte Trennung der Familie nach sich ziehen, weil sie weder in Deutschland noch in Österreich zusammenleben und auch nicht in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Diese dauerhafte Trennung entspreche nicht den Grundsätzen des Schutzes von Ehe und Familie, wie sie in Art. 8 EMRK formuliert seien.

Diese Argumente wurden in einem (von einem Rechtsanwalt verfassten) die Berufung ergänzenden Schriftsatz vom 23. Oktober 2008 näher ausgeführt. Insbesondere wurde noch darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau und den vier Kindern (22, 20, und jeweils 18 Jahre alt) bis zu seiner Flucht im Jahr 1999 in Tschetschenien und anschließend bis Mai 2003 in Georgien im gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Als er damals aus Georgien habe flüchten müssen, sei die Familie zurückgeblieben, die dann im Jänner/Februar 2004 zu ihm nach Deutschland habe nachkommen wollen, aber nach Österreich gelangt sei. Ihm sei am 25. Jänner 2005 in Deutschland, seinen Angehörigen Anfang Juni 2005 in Österreich Asyl gewährt worden. Die Ehefrau des Beschwerdeführers sei krankheitsbedingt arbeitsunfähig, der älteste Sohn studiere derzeit als außerordentlicher Hörer an der Universität Innsbruck, der 20-jährige Sohn werde demnächst eine Lehre als EDV-Techniker beginnen und die Zwillinge besuchten nach Absolvierung der Hauptschule nunmehr die Handelsschule in Innsbruck. Aufgrund der aufgezeigten Umstände sei die Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. Es bestehe - außer durch die Stellung eines Antrages auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung durch den Beschwerdeführer - keine andere zumutbare Möglichkeit auf Familienzusammenführung. Auch wenn die Familie derzeit kein Geld verdiene, müsse darauf verwiesen werden, dass alle Kinder eine auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte Ausbildung absolvieren und in absehbarer Zeit ins Erwerbsleben eintreten werden und dass der Beschwerdeführer seine kranke Ehefrau unterstützen könnte. Vor diesem Hintergrund sei dieser Fall zugunsten der Familieneinheit zu entscheiden, sodass beantragt werde, dem Beschwerdeführer eine Niederlassungsbewilligung gestützt auf § 11 Abs. 3 NAG zu erteilen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 1. Dezember 2009 wies die Bundesministerin für Inneres (die belangte Behörde) die Berufung gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm § 11 Abs. 5 NAG ab.

In der Begründung führte sie - nach zusammengefasster Wiedergabe des Verfahrensganges - zunächst aus, dass der gegenständliche Antrag auf die Erteilung einer quotenpflichtigen "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gerichtet sei. Unter Bezugnahme auf die im Spruch genannten Gesetzesbestimmungen legte die belangte Behörde dann dar, im Hinblick auf den Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner Ehefrau sei diese verpflichtet, für den Lebensunterhalt des Beschwerdeführers aufzukommen und einen ausreichenden Einkommensnachweis zu erbringen. Da diese arbeitsunfähig sei und ihren Lebensunterhalt aus der Grundsicherung bestreite, sei es sehr wahrscheinlich, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führe. In Anbetracht dessen habe der Berufung "aufgrund der aktuellen Verfahrenslage" nicht stattgegeben werden können.

Die daran anschließende Begründung lautet wörtlich wie folgt:

"Gemäß § 11 Abs. 3 NAG kann ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung einer Voraussetzung nach Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist.

Hiezu hat die Berufungsbehörde festgestellt, dass ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK besteht und die deutliche Unterschreitung der in § 293 ASVG vorgesehenen Richtsätze zu einer finanziellen Belastung der Gebietskörperschaft führen (führt).

Diesbezüglich hat der VfGH mit Erkenntnis vom 08.10.2003, Zl. G 119/03, festgestellt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Judikatur einer Ausländerfamilie nicht das unbedingte Recht auf ein gemeinsames Familienleben in einem Vertragsstaat zugesteht. Art. 8 EMRK umfasst nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes durch die verschiedenen Familienmitglieder anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. Auch beinhaltet Art. 8 EMRK nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens zu wählen. Des Weiteren besteht laut EGMR nicht die grundsätzliche Verpflichtung zur Herstellung des Familienlebens. Jeder Vertragsstaat habe das Recht, die Einreise von Nichtstaatsangehörigen einer Kontrolle zu unterwerfen.

Ihr Antrag war somit abzuweisen, da auch die Sicherung des Lebensunterhaltes im Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstellt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage erwogen hat:

In der Beschwerde wird sachverhaltsmäßig die Darstellung in der Berufung wiederholt, dann wird kritisiert, dass wesentliche Passagen des im angefochtenen Bescheid zitierten Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes außer Acht gelassen worden seien, und daran anschließend wird bemängelt, dass die belangte Behörde das Berufungsvorbingen "mit Stillschweigen übergangen" habe. Andernfalls hätte sie zu dem Ergebnis kommen müssen, dass für den Beschwerdeführer und seine Familie ein wesentliches Hindernis für eine Wohnsitzbegründung im Heimatstaat bestehe und daher ausnahmsweise ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug bestehe.

Anders als die Erstbehörde nahm die belangte Behörde zwar - wie sich aus der Wiedergabe ihrer Bescheidbegründung ersehen lässt - auch auf § 11 Abs. 3 NAG Bedacht, demzufolge ein Aufenthaltstitel trotz des Fehlens (u.a.) der Voraussetzung nach § 11 Abs. 2 Z 4 NAG erteilt werden kann, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist. Zur Beurteilung dieser Frage ist jedoch - an Hand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles - eine gewichtende Gegenüberstellung des Interesses des Fremden an der Erteilung eines Aufenthaltstitels und dem öffentlichen Interesse an der Versagung vorzunehmen. Art 8 EMRK enthält zwar kein Recht von Ausländern auf Entfaltung des Familienlebens in einem bestimmten Staat. Dennoch kann sich aus dieser Bestimmung der EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben, die Einreise und Niederlassung von Familienangehörigen zu ermöglichen, mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bildet (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Mai 2010, Zl. 2008/21/0165, mit dem Hinweis auf das Erkenntnis vom 18. Juni 2009, Zl. 2008/22/0387).

Der erforderlichen Prüfung, ob ein solcher Eingriff bei Versagung des vom Beschwerdeführer beantragten Aufenthaltstitels gegeben wäre, wird allerdings die sich im Wesentlichen auf die bloße Wiedergabe einzelner Rechtssätze aus der Judikatur des EGMR beschränkende Begründung der belangten Behörde überhaupt nicht gerecht (vgl. auch dazu das schon genannte Erkenntnis vom 27. Mai 2010). Insbesondere ist ihr keine Auseinandersetzung mit den in der Berufung vorgetragenen Umständen zu entnehmen. Das rügt die Beschwerde zu Recht.

Der Beschwerde ist aber auch darin beizupflichten, dass die belangte Behörde bei Bedachtnahme auf dieses Vorbingen zu dem Ergebnis hätte gelangen müssen, dem Beschwerdeführer wäre der beantragte Aufenthaltstitel jedenfalls im Grunde des § 11 Abs. 3 NAG zu erteilen gewesen. Einerseits hat die belangte Behörde nämlich nicht angenommen, es wäre eine Zusammenführung der Familie im Aufenthaltsstaat des Beschwerdeführers, also in Deutschland, möglich, andererseits ist durch die Asylanerkennung evident, dass dem Beschwerdeführer und seinen Angehörigen eine Rückkehr in den Heimatsstaat (ein anderer Staat steht nicht zur Debatte) nicht zumutbar ist. Davon ausgehend kommt eine Familienzusammenführung nur in Österreich, wo sich alle Angehörigen des Beschwerdeführers aufhalten, wo ihnen Asyl gewährt wurde und wo sie sich bereits integriert haben, in Betracht. Angesichts dessen stellt die Verweigerung eines Zusammenlebens des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau, mit der er nach der Aktenlage seit 1984 verheiratet ist, nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar, der durch eine mögliche finanzielle Belastung durch staatliche Leistungen für den Beschwerdeführer nicht gerechtfertigt ist. Das hat die belangte Behörde verkannt.

Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das Vorbringen in der Beschwerde, "Art 9 - 12 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG" hätten "mitberücksichtigt" werden müssen, und auf das Verhältnis der genannten Bestimmungen zum hier in Rede stehenden § 46 Abs. 4 Z 3 lit. d NAG (in der Fassung vor dem FrÄG 2011) noch einzugehen war.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. September 2011

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

Im RIS seit

11.11.2011

Zuletzt aktualisiert am

08.01.2013

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