Von Vertriebenen, Flüchtlingen und der Pflicht, zu helfen

Ansprache des UNHCR-Repräsentanten in Deutschland, Dominik Bartsch, zur Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2019 im Deutschen Historischen Museum

©BMI/Henning Schacht

Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich praktisch jeden Tag mit Flüchtlingen spreche. In den vergangenen 30 Jahren sind da viele Erlebnisse, Erfahrungen, Schicksale in meinem Gedächtnis geblieben. Sie haben mich geprägt und prägen mich noch immer, auch noch nach Jahrzehnten. Eine Geschichte ist mir besonders in Erinnerung geblieben, die wir gerade letzten Monat hier in Berlin erlebten.

Ein Flüchtling erzählte uns, wie sie geflohen war. Sie war sieben und hatte noch zwei kleine Brüder, den einen hatte sich die Mutter vor die Brust gebunden. Der Vater war tot und von der Habe der Familie, die vor Ausbruch der Kämpfe ihr Auskommen hatte, konnte man nur mitnehmen, was die Mutter und das Mädchen auf dem Rücken tragen konnten. Der andere Bruder war vier und zu klein um mitzuhelfen. Die Flucht dauerte Wochen, Mutter und Kinder schliefen fast immer unter freiem Himmel, hatten nie genug zu essen und hinzu kam das Gefühl, alles verloren zu haben: das Haus, alles Spielzeug, das Familienglück, die Heimat. Und als wäre das alles nicht genug, überlebte der kleinste Bruder die Strapazen nicht und musste in fremder Erde verscharrt werden.

Diese Flüchtlinge kamen nicht aus Syrien und auch nicht aus dem Irak oder Afghanistan. Sie sind Deutsche und das Flüchtlingsmädchen ist heute 80 Jahre alt, lebt in einem Altenheim in Schmargendorf und denkt, sagt sie, noch jeden Tag an die Stärke ihrer Mutter, den Tod des Bruders und den Verlust der Heimat. Ihr gehe es gut, sie habe ein gutes Leben gehabt, sagt sie, und es gebe so vieles, für das sie dankbar sei. Aber auch nach mehr als 70 Jahren in Berlin habe sie manchmal das Gefühl, entwurzelt zu sein. Heimatlos.

Krieg ist immer furchtbar.  Auch nach 80 Jahren und unzähligen Büchern, Ausstellungen und Gedenken sind die Verbrechen die im letzten Weltkrieg begangen wurden, kaum fassbar. Das darf nie vergessen werden. Unzählige Deutsche haben sich schuldig gemacht. Aber es war gewiss nicht das damals sieben Jahre alte Mädchen. Millionen Deutsche wurden nach dem Krieg vertrieben und sie haben bitteres Unrecht ertragen müssen. Wir sollten ihnen zuhören, solange wir es noch können.

Und wir sollten die Lehren aus ihren Leiden ziehen, um es anderen zu ersparen. Oder es zumindest lindern. Wie Sie wissen, arbeite ich für den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Manche nennen uns die größte Hilfsorganisation der Welt, weil wir in 128 Ländern dieser Erde aktiv sind und jeden Tag Millionen Menschen Schutz geben und sie mit dem Nötigsten versorgen. Die Gründung meiner Organisation ist eine direkte Folge des Leides der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Krieg.

UNHCR hatte zunächst ein Mandat für drei Jahre. Man hoffte, dass sich das Problem dann erledigt habe. Und so weise unsere Gründerväter und – mütter waren, hier irrten sie komplett. Heute, sieben Jahrzehnte später, gibt es auf der Erde so viele Flüchtlinge wie noch nie in der Geschichte des UNHCR. Gerade gestern hat unser Hochkommissar die neuesten Zahlen bekanntgegeben: 70,8 Millionen Menschen sind Flüchtlinge, Binnenvertriebene oder Asylsuchende. 70,8 Millionen! Wenn das ein eigenes Land wäre, wäre es das zweitgrößte Europas. Größer als Frankreich, größer als Großbritannien. Diese Zahlen erschrecken uns kurz aber sie sind doch zu abstrakt um das Schicksal des Einzelnen zu verstehen.

Denn während ich hier rede, werden weitere Menschen verfolgt und vertrieben. Alle zwei Sekunden ein Mensch.  Sie fliehen, damit man sie nicht totschlägt. Verlassen ihre Heimat, um sich und ihre Kinder zu retten. Sie erreichen Bangladesch und alles, was sie besitzen, sind die Kleidung, die sie am Körper haben, und das, was sie zehn, zwölf Tage durch den Dschungel tragen konnten. Sie erreichen Uganda aus dem Süd Sudan und haben seit Tagen nichts gegessen. Sie haben Syrien hinter sich gelassen und damit ihr ganzes Leben und den bescheidenen Wohlstand, zu dem sie gekommen waren.

Und dann kommen sie alle nach Europa? Nach Deutschland gar? Mitnichten. Die weitaus meisten Flüchtlinge bleiben im direkten Nachbarland, immer in der Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Es ist nur ein Bruchteil der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, und Europa stöhnt, als ob das eine untragbare Belastung wäre.

Es ist wie ein Haus mit einigen Reichen in der obersten Etage, weniger Begüterten in der mittleren und den Armen ganz unten. Als das Nachbarhaus brennt und acht Menschen Hilfe brauchen, nehmen die Armen und die weniger Begüterten sieben auf und die Reichen einen. Und dann kommt eine Abordnung der Reichen in die Kasematten und fordert die anderen auf, doch bitte auch noch den achten zu nehmen. Wegen Unzumutbarkeit.

Wir haben eine Pflicht, zu helfen. Zum einen völkerrechtlich, weil es die Genfer Flüchtlingskonvention gibt und die ist ja überhaupt erst auf Grund der millionenfachen Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg entstanden. Wir haben aber auch eine moralische Pflicht zu helfen, weil es zu unserem Werteverständnis gehört, unschuldig in Not Geratene zu schützen.

Aber nicht jeder, der ankommt, ist auch gleich ein Flüchtling. Dafür gibt es ein Asylsystem, das den Einzelfall sorgsam prüfen soll. Trotz aller Herausforderungen funktioniert dieses System. Schwierig bleibt jedoch der Umgang mit jenen, die keinen Schutzstatus erhalten, nicht anerkannt werden als Flüchtlinge.

Lassen Sie mich den Blick noch einmal auf die weltweite Situation lenken:  Was denken Sie, wie viele der Flüchtlinge in Europa sind?  Die Antwort: 91 Prozent der Flüchtlinge sind… nicht in der EU. Stattdessen ist im Libanon jeder sechste heute ein Flüchtling. Und Uganda oder Bangladesch haben jeweils ebenso viele Flüchtlinge aufgenommen wie Deutschland – und zum Vergleich: in Bangladesch verdient man im Schnitt 1200 Euro. Im Jahr!

Aber diese großen Aufnahmeländer sind an die Belastungsgrenze gekommen. Sie brauchen nachhaltige Unterstützung. Das ist der Kerngedanke des globalen Flüchtlingspaktes, der ja gerade aus den Erfahrungen von 2015/16 entstanden ist.  Viele Syrer in den Nachbarländern hatten zu jener Zeit jedwede Perspektive verloren, und als dann auch noch die humanitäre Hilfe zurückging, hatten die Schlepper mit ihrem perfiden Geschäftsmodell ein leichtes Spiel.

Deutschland nimmt hier eine ganz herausragende Rolle ein, ist sowohl ein wichtiger Geber, der den Flüchtlingsschutz weltweit finanziell unterstützt, aber auch ein Aufnahmeland, das aus eigener Erfahrung die Herausforderungen in Ländern wie Jordanien, Kenia oder Kolumbien sehr gut versteht. Somit hat die internationale Staatengemeinschaft auch große Erwartungen, dass Deutschland beim globalen Flüchtlingsforum, das diesen Dezember erstmalig stattfinden wird, wichtige Akzente setzt.

Sind Flüchtlinge nun dazu verdammt, ewig Opfer zu bleiben? Nein, sie sind es nicht, denn zu den wenigen Dingen, die ihnen geblieben sind, zählen ihre Fähigkeiten, ihr Engagement und nicht zuletzt ihre Hoffnung. Und es gehört zum Menschen, dass er auf eigenen Füssen stehen will, für seine Familie sorgen und in Würde sein Leben gestalten möchte.

Diesen Prozess zu begleiten ist auch eine Chance. Millionen Deutscher engagieren sich jeden Tag und unterstützen Flüchtlinge bei der Integration. Und dass schon 300 000 Flüchtlinge Arbeit gefunden haben und bald Steuerzahler sein werden, oder es gar schon sind, sollte selbst die Kritiker überzeugen.

Erlauben Sie, dass ich noch einmal auf das Flüchtlingsmädchen zurückkomme. Ich bin mir sicher, dass jeder, wirklich jeder von uns diesem Mädchen, das alles verloren hat, helfen würde. Wir denken voller Mitgefühl an diese Menschen, die vielleicht unsere Eltern oder Großeltern waren und wie gern würden wir diesen Kindern von damals heute die Hand reichen. Leider können wir es nicht, denn es ist Vergangenheit und das siebenjährige Mädchen von damals ist heute eine alte Frau. Und ihr Schicksal ist, gleichzeitig so nah und doch so fern, Geschichte.

Aber da draußen in der Welt, da sind noch Hunderttausende sieben Jahre alte Mädchen, die jetzt, in diesem Moment, in dem wir hier sitzen, genau das gleiche durchmachen. Die kein Spielzeug haben und nicht lernen können. Deren Essen so armselig ist wie die Unterkunft – wenn sie denn eine haben. Die Terror, Verfolgung und Tod in einem Alter in die Augen blicken mussten, in dem wir unseren Kindern nicht einmal den sonntäglichen Tatort zumuten wollen.

Heute ist der Weltflüchtlingstag, der Tag, der uns daran erinnern soll, dass von all den Menschen, die unsere Hilfe brauchen, 70,8 Millionen in ganz besonderer Not sind.  Welch ein unbeschreibliches Glück für Deutschland, dass keine Deutschen darunter sind. Möge das Andenken an die Vertriebenen unser moralisches Handeln leiten.  Heute und auch morgen.