Familienzusammenführung mit Hürden
Eine kurdische Familie wurde während der Flucht aus Syrien getrennt. Nach mehr als drei Jahren Warten ist sie wieder vereint und kann sich nun voll auf ihr neues Leben in der Schweiz konzentrieren.
Kinder rennen in der Grünanlage einer beschaulichen Wohnsiedlung am Rande Thuns umher. Sie geniessen die für April aussergewöhnlich warmen Sonnenstrahlen, hinter ihnen das Panorama des Berner Oberlands. Im Stimmenwirrwarr vermischen sich Berndeutsch und Hochdeutsch. Hier und da fallen ein paar Wörter auf Kurdisch. Diese gelten vor allem Abdualrahman. Er ist 11 Jahre alt, kommt aus Syrien und ist erst seit sechs Monaten in der Schweiz. Mit der Sprache hat er noch Schwierigkeiten – ganz anders seine drei jüngeren Geschwister, Maryam, Fatema und Ibrahim, die bereits vor drei Jahren mit den Eltern in die Schweiz gekommen sind.
Die Familie lebte bis August 2014 zusammen in Qamischli, im Norden Syriens, unweit der türkischen Grenze. Zur Familie gehören nicht nur die Eltern, Ghaleb und Shuk, und die vier Kinder, sondern auch die beiden Schwestern von Ghaleb, Fatima und Salwa, die beide ein sehr inniges Verhältnis zu den Kindern haben. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) rückte immer näher. Ein Jahr zuvor bereits hatte die Familie Damaskus verlassen müssen, wo Ghaleb 15 Jahre lang einen Coiffeursalon geführt hatte. Der Bruder seiner Frau war politisch gegen die Regierung tätig gewesen, weshalb der Geheimdienst begann, Familienmitglieder zu verhaften. „Angesichts dieser beiden Bedrohungen haben wir für unsere Familie keine Zukunft in Syrien gesehen“, erinnert sich Ghaleb.
„Angesichts dieser Bedrohungen haben wir für unsere Familie keine Zukunft in Syrien gesehen.“
Ghaleb und seine Familie mussten zuerst aus Damaskus in den Norden Syriens und schlussendlich aus Syrien fliehen.
Die Flucht verlief allerdings anders als geplant: An der türkischen Grenze wurde die Familie mit anderen Flüchtlingen in mehrere kleine Gruppen eingeteilt, um beim Grenzübertritt unauffälliger zu sein. Als die Eltern mit den beiden Töchtern und dem jüngeren Sohn bereits auf türkischer Seite waren, wurde von den Grenzposten plötzlich auf die Flüchtlingsgruppen geschossen. Für den damals 8-jährigen Abdualrahman und seine beiden Tanten, die auf syrischer Seite in einer anderen Gruppe waren, war es deshalb unmöglich, über die Grenze zu kommen. Sie kehrten zurück in ihr Haus in Qamischli.
„Für Abdualrahman war es damals sehr schwer, die Situation zu verstehen. Obwohl wir selbst unter Schock standen, waren meine Schwester und ich uns darüber bewusst, dass es nun an uns lag, ihn zu beschützen“, sagt Fatima. Für die anderen wäre eine Rückkehr zu gefährlich und vor allem auch zu teuer gewesen – sie hätten erneut einen Schlepper bezahlen müssen, wie Ghaleb erzählt: „Wir haben einen Monat von einem Hotel aus in der Türkei alles unternommen, damit die drei nachkommen können. Leider haben wir das nicht geschafft. Wir haben also die schwierige Entscheidung getroffen, die Reise nach Europa erst einmal mit einem Teil der Familie fortzusetzen, in der Hoffnung, dass wir bald wieder alle zusammen sein können.“
Über die Stationen Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich kamen sie im Oktober 2014 in die Schweiz. „Eine andere Schwester von mir war drei Tage zuvor in die Schweiz gekommen. Deshalb beschlossen wir, ebenfalls dorthin zu gehen“, sagt Ghaleb. Was dann folgte, waren Monate der Ungewissheit. Ghaleb, seine Frau Shuk und die drei Kinder haben zwei Jahre gewartet, bis sie endlich eine Entscheidung über ihren Asylantrag erhielten. Sie wurden zu ihrer Enttäuschung nicht als Flüchtlinge anerkannt, konnten wegen der aktuellen Situation in Syrien jedoch in der Schweiz bleiben. Zu Abdualrahman, Fatima und Salwa hatten sie während dieser Phase nur wenig Kontakt, da das Kommunikationsnetz in Qamischli fast vollständig zerstört war. Der Antrag, sie in die Schweiz nachzuholen, wurde vom Staatssekretariat für Migration (SEM) dreimal abgelehnt, da die Familie sich zu dem Zeitpunkt noch im Asylverfahren befand. „Für uns war diese Zeit sehr nervenaufreibend. Meiner Frau vor allem machte die Ungewissheit sehr zu schaffen, sie hatte regelmässig Alpträume“, erzählt Ghaleb.
Wie gingen Fatima und Salwa mit der Verantwortung um, ihren Neffen unter solch schwierigen Bedingungen grosszuziehen? Anfangs sei es schwierig für ihn gewesen, die Situation zu verstehen, sagt Fatima, die ältere der beiden Schwestern. „Er wurde von anderen Kindern gehänselt, sie sagten ihm, dass seine Eltern ihn im Stich gelassen hätten. Wir beide wussten, dass wir stark sein und Abdualrahman einen familiären Rahmen geben mussten.“
Ghaleb und Shuk konnten schliesslich für ihren Sohn einen Antrag auf ein spezielles humanitäres Visum stellen. Ermöglicht wurde dies durch den sogenannten Syrien-II-Beschluss des Bundesrates vom März 2015, auf dessen Grundlage engste Familienangehörigen von SyrerInnen in die Schweiz kommen konnten. Diese ausserordentliche Massnahme war auf die Opfer des Syrienkonfliktes beschränkt und ist mittlerweile ausgelaufen.
Das Rote Kreuz hat dann die Familie unterstützt, damit auch die beiden Tanten, die in Syrien akut gefährdet waren, dank eines regulären humanitären Visums in die Schweiz kommen konnten. Eine seltene Chance, denn diese Visa werden sehr häufig abgelehnt.
„Erst jetzt, da wir alle vereint sind, ist es für uns möglich, uns voll und ganz auf unser neues Leben hier zu konzentrieren.“
Ghaleb freut sich, dass die ganze Familie zusammen ihr neues Leben in der Schweiz in Angriff nehmen kann.
„Erst jetzt, da wir alle vereint sind, ist es für uns möglich, uns voll und ganz auf unser neues Leben hier zu konzentrieren“, sagt Ghaleb. Für Abdualrahman geht es vor allem darum, so schnell wie möglich seine Geschwister einzuholen, was die Kenntnisse der Landessprache angeht. Deshalb besucht er zusätzlich zu seinem normalen Schulunterricht jeden Tag einen Deutschkurs. Die lange Abwesenheit hat Spuren hinterlassen: So hat Abdualrahman auch heute nach wie vor eine sehr enge Bindung zu seinen Tanten. Er fragt sie noch oft um Erlaubnis.
Doch er und seine beiden Tanten – die in einer Asylunterkunft in Mühleberg in der Nähe von Bern wohnen – können von der Erfahrung der übrigen Familienmitglieder, die Land und Leute schon kennen, enorm profitieren. „Sie haben uns gezeigt, dass es hier ganz normal ist, Poulet verpackt – und nicht lebend, wie in Syrien – zu kaufen“, bemerkt Fatima lachend und betont, wie sehr sich die Familie wünscht, sich in der Schweiz eine Zukunft aufbauen zu können.
Mehr Informationen zur Familienzusammenführung in der Schweiz.
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