Nachts im größten Flüchtlingscamp der Erde

Unser Berliner Kollege Chris berichtet aus Kutupalong, Bangladesch – Zuflucht für hunderttausende Rohingya-Flüchtlinge.

Eine UNHCR-Mitarbeiterin spricht mit den Bewohnern von Kutupalong. @UNHCR / Chris Melzer

Die Geräusche hallen weit: Das Knarren einer Wasserpumpe, das Schreien eines Babies, Radios, immer mit Sprache, nie mit Musik. Und natürlich Stimmen. Vor allem Stimmen. Nacht liegt über Kutupalong und es ist stockdunkel. Kein Wunder, Straßenlaternen gibt es im größten Flüchtlingscamp der Erde kaum. Gut 620 000 Menschen leben hier, mehr als in Düsseldorf oder Stuttgart. Allerdings ein Stuttgart aus Hütten, gemacht aus Bambus, Planen und ein paar Seilen. Das höchste Gebäude ist zwei Meter hoch, Elektrizität gibt es ebensowenig in den Hütten wie Wasser oder Türen und Fenster. Oder Möbel, wenn man die UNHCR-Matten, auf denen ganze Familien schlafen, nicht mitzählt.

Tagsüber sieht man Hütten, so weit das Auge reicht. Nachts sieht man… nichts. Manchmal huscht ein grünlicher Schein durch das Dunkel. Das ist einer der Flüchtlinge, der im Schein seines Telefons die Toilette sucht. Oder die Hütte eines Freundes. Es ist unruhig im Lager, denn das Gerücht geht um, dass die Flüchtlinge, Rohingya aus Myanmar, hier von Bangladesch aus in ihre Heimat abgeschoben werden sollen. Die Spannung scheint mit Händen greifbar. Es ist nicht lauter als sonst. Es ist stiller. Als wage keiner zu sprechen, damit niemand auf ihn aufmerksam wird.

„Wir möchten nach Hause. Jeder Mensch möchte nach Hause”, sagt ein junger Mann. „Aber nicht jetzt. Nicht in dieses Land.” Er kam im vergangenen Jahr mit 700 000 anderen Menschen über den Naf, den breiten Grenzfluss zwischen Bangladesch und Myanmar, als dort, so sagen sie, Menschen getötet und Dörfer niedergebrannt wurden. Viele rannten einfach weg und hatten nur, was sie auf dem Leibe hatten, ein Hemd und eine Hose. Andere trugen ihre kleinen Kinder auf dem Arm oder die alten Verwandten auf dem Rücken. Jetzt leben sie auf dem dichtestbesiedelten Flecken der Erde, essen Reis aus der Nahrungsration und suchen in der Monsunzeit unter den blau-weißen UNHCR-Planen Schutz vor dem endlosen Regen. Und trotzdem wollen sie nicht zurück. Nicht jetzt. Noch nicht.

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Nacht über Kutupalong: Die Geräusche hallen weit: Das Knarren einer Wasserpumpe, das Schreien eines Babies, Radios, immer mit Sprache, nie mit Musik. Und natürlich Stimmen. © UNHCR / Chris Melzer

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620 000 Menschen leben in Kutupalong, mehr als in Düsseldorf oder Stuttgart. Allerdings ein Stuttgart aus Hütten, gemacht aus Bambus, Planen und ein paar Seilen. © UNHCR / Chris Melzer

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Maria Ferrante ist Teil von UNHCRs sogenanntem Protection-Team. „Wir stehen in ständigen Gesprächen mit den Regierungen. Wir lassen Euch nicht im Stich!“, sagt sie zu den Flüchtlingen. © UNHCR /Chris Melzer

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„Gebt uns endlich die Staatsbürgerschaft und behandelt uns Rohingya wie jeden anderen Menschen auch. Dann kommen wir, noch am selben Tag. Es ist schließlich unsere Heimat“, sagen die Männer. © UNHCR / Chris Melzer

Alle paar Hundert Meter ergibt sich das gleiche Bild: Männer sitzen zusammen, meistens zehn, 15, und lauschen einem kleinen Radio. BBC ist zu hören und Voice of America und immer übersetzt einer für die anderen. „Bangladesch versichert, dass niemand gegen seinen Willen abgeschoben wird“, übersetzt ein junger Mann und seine Stimme klingt so atemlos wie die eines Reporters. Die umsitzenden Männer murmeln etwas und nicken mit dem Kopf. „Amerika kritisiert Myanmar scharf!“, sagt der Übersetzer und das Murmeln wird lauter. Schließlich: „Myanmar sagt, die Rohingya müssten nur heimkehren, ihnen würde nichts passieren.“ Die Männer schütteln den Kopf. „Wir glauben ihnen nicht”, sagt einer. „Sie haben uns vertrieben und jetzt glauben wir ihnen nicht.“

„Jeder von uns hat einen Verwandten oder einen Freund, der getötet wurde. Jeder kennt eine Frau, die vergewaltigt wurde“, beteuert ein Mann. „Wir gehen nicht zurück in dieses Land. Erst, wenn es ein anderes geworden ist.“ Die Versprechen der Regierung seien Lippenbekenntnisse, nichts wert. „Gebt uns endlich die Staatsbürgerschaft und behandelt uns Rohingya wie jeden anderen Menschen auch. Dann kommen wir, noch am selben Tag. Es ist schließlich unsere Heimat.“

Immer wieder wenden sich die Männer an die Mitarbeiter von UNHCR in ihren weiß-blauen Westen und T-Shirts. „Was wird aus uns?“ und „Könnt Ihr uns schützen?“, fragen sie immer wieder besorgt. Maria Ferrante, bei UNHCR im „Protection“-Team, verspricht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun. „Bangladesch hat versprochen, niemanden gegen seinen Willen abzuschieben“, sagt sie, und: „Wir stehen in ständigen Gesprächen mit den Regierungen. Wir lassen Euch nicht im Stich!“ Zwischendurch bringt sie den Kindern, die noch wach sind, italienische Kinderspiele bei. Ein bisschen Ablenkung ist für beide Seiten ganz gut.

Es ist erstaunlich, was alls möglich ist, obwohl man kaum etwas sieht. Frauen waschen die Wäsche. Männer bereiten Tee. Einer bessert eine Treppe aus, die nur aus sandgefüllten Jutesäcken besteht, die man aufgeschichtet und verkeilt hat. Und immer wieder laufen Kinder zwischen den Hütten herum, lachen wie alle Kinder überall auf der Erde auch und freuen sich, wenn sie vom anderen nicht gefunden wurden. Verstecken gewinnt enorm an Reiz, wenn es stockdunkel ist.

Über Kutupalong breitet sich ein gewaltiger Sternenhimmel aus, als wolle er die Flüchtlinge mit seiner Pracht wenigstens ein bisschen für all das Leid und all die Entbehrungen entschädigen. Langsam werden die Geräusche leiser, nur irgendein Baby schreit fast immer irgendwo. Einige Männer stehen noch immer vor den Hütten, in der Dunkelheit sind ihre sorgenvollen Minen nicht zu erkennen. In ein paar Stunden wird die Sonne wieder aufgehen. Dann sieht man wieder Hütten, so weit das Auge reicht.