Gespräche zum Weltfrauentag: Nour aus Syrien – „Ich glaube an die neue Generation!“

Nour B. kommt aus Syrien und ist erst seit Sommer 2017 in Österreich. Im Interview erzählt sie über ihr Leben als junge Frau in Damaskus während des Krieges und von ihren Träumen sowie ihren ganz konkreten Projekten, erste Schritte in Richtung eines neuen, friedlichen Syriens zu gehen.

In Damaskus hat Nour mit vetriebenen Kinder gearbeitet, da sie fest daran glaubt, dass die junge Generation die Welt zum Besseren verändern kann. Als der Krieg anhielt, wollte Nour mehr über verschiedene Ansichten zum Leben, Krieg und Zusammenleben kennenlernen und sie führte mehrere Interviews, die sie in einem Theaterstück umsetzte. Ihre Aktivitäten brachten sie in Gefahr und sie musste letztendlich Asyl in Österreich beantragen, wo sie für die Aufführung ihres Stücks in das „Forum Alpbach“ eingeladen wurde. © UNHCR/Stefanie J. Steindl

WIEN, Österreich –

UNHCR: Zum Internationalen Frauentag bitten wir Frauen, die flüchten mussten, uns von ihren Träumen zu erzählen. Wovon haben Sie als junges Mädchen geträumt und wie sehr haben sich Ihre Träume verändert?

Nour B.: Mein Traum hat sich nie geändert. Ich war 21 Jahre, also noch sehr jung, als der Krieg in Syrien ausbrach. Natürlich will ich Frieden, aber es ist gleichzeitig so viel mehr … Unser Land ist komplett zerstört, nicht nur die Gebäude, sondern auch die Menschen, die Seelen. Wenn ich einen Wunsch hätte … dann würde ich mir wünschen, unser Land auf eine richtig gute Art und Weise wieder aufzubauen. Nicht nur zum Überleben, sondern ein entwickeltes, fortschrittliches Land. Denn eigentlich hätten wir dafür alle Voraussetzungen – die Menschen, die Zielstrebigkeit, die Ausbildung, die Rohmaterialien. Damaskus ist 7.000 Jahre alt und ist vielleicht eine der ältesten Städte der Welt. Wir haben es schon einmal geschafft. Wir können es wieder schaffen.

Mein Traum ist immer noch der Gleiche, aber ich bin viel rationaler geworden seit ich in Österreich bin. Wir müssen überlegen: Welches Wirtschaftssystem soll es geben? Welches politische System? Wie können die Menschen diese schwierige Phase des Hasses überwinden und wieder zusammenleben? Deswegen sage ich auch nicht einfach, ich wünsche mir Frieden. Das wird ein sehr langer Prozess werden. Vielleicht sogar länger als ich lebe. Aber ich kann ein Teil davon sein. Es ist wie in der Medizin. Wir müssen die Probleme bei der Wurzel packen, nicht nur die Symptome kurieren.

UNHCR: Sie haben viele Jahre Krieg in Syrien erlebt und schon früh begonnen, über ein Syrien der Zukunft nachzudenken und Projekte umzusetzen. Können Sie uns davon erzählen?

Nour B.: Ich war mitten in meinem Pharmazie-Studium, als der Krieg ausgebrochen ist. Gemeinsam mit meiner Familie lebte ich in der Nähe von Damaskus. Ich habe vor dem Krieg gut 20 Minuten in die Stadt gebraucht, aber durch die vielen Kontrollen und Check-Points waren es auf einmal drei oder vier Stunden. Meine einzige Chance weiter zu studieren war, direkt nach Damaskus zu ziehen.

Das war nicht einfach, denn es ist nicht üblich, dass ein junges Mädchen in Syrien allein lebt. Ich musste dafür kämpfen, aber ich habe es geschafft.

Doch auch in Damaskus war es gefährlich. 2012 und 2013 wurde die Stadt beschossen und wir konnten nicht auf die Straße und oft fand einige Monate kein Unterricht statt, wir mussten zu Hause lernen.

In dieser Zeit habe ich bereits begonnen, mit Kindern zu arbeiten. Ich glaube an die nächste Generation. Ich bin davon überzeugt, wenn wir es schaffen, die neue Generation zu retten, dann können wir auch unser Land retten.

Neben meinem naturwissenschaftlichen Studium hatte ich immer schon ein großes Interesse für Kunst und für Tanz, das habe ich sogar einige Zeit auch studiert. Ich habe begonnen, für vertriebene Kinder Workshops für Tanz und kritisches Denken zu entwickeln. Die Kinder kamen von ganz verschiedenen Regionen in Syrien und hatten auch einen ganz unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergrund. Sie waren alle in Damaskus, weil es dort immer noch am sichersten war. Manche kamen aus sehr streng konservativen Familien und Mädchen und Buben durften nicht gemeinsam tanzen. Aber Schritt für Schritt habe ich das Vertrauen aufgebaut. Bald sind die Eltern zu unseren kleinen Abschluss-Shows gekommen und sie waren wirklich stolz auf ihre Kinder. Wir haben viel gespielt, wir haben diskutiert und wir haben viele Fragen aufgeworfen.

Bei einem meiner Workshops habe ich auch das Thema „Meer“ aufgegriffen. Denn durch die vielen Toten auf dem Mittelmeer hatten die Kinder plötzlich Angst vor dem Meer. Ich habe versucht, ihnen diese Angst wieder zu nehmen. Ich habe viel von den Kindern gelernt. Sie sagen dir ehrlich, was sie denken.

Und ich habe auch begonnen, viel darüber nachzudenken, warum dieser Krieg ausgebrochen ist. Ich habe bei kulturellen Projekten mitgemacht, die sich mit unserer Gesellschaft auseinandergesetzt haben.

International Women's Day 2018, Austria

Nours Vater wollte schon immer Wien besuchen, da er ein großer Fan von Strauss, dem Komponisten des „Donauwalzers“, ist. Er hätte sich nie zu träumen gewagt, dass seine Tochter eines Tages in der Stadt, die er schon immer für ihre Musik bewunderte, einen sicheren Hafen findet. Nour steht manchmal neben der Donau und denkt: „Danke Wien. Ich bin sehr, sehr dankbar.“ Die Menschen hier haben sie mit offenen Armen willkommen geheißen und ihr vertraut, obwohl sie sie kaum kannten. © UNHCR/Stefanie J. Steindl

International Women's Day 2018, Austria

Für den Internationalen Frauentag zeigt uns Nour ein Bild aus der Vergangenheit, das ihr viel bedeutet. Das Foto, das sie in der Hand hält, zeigt sie in der Altstadt von Damaskus, wo sie bis 2017 lebte. Sie zog in das Stadtzentrum, um während des Kriegs die Universität besuchen zu können, da es zu zeitaufwendig und gefährlich wurde, von ihrem Elternhaus aus zu pendeln. © UNHCR/Stefanie J. Steindl

International Women's Day 2018, Austria

Nour wurde neben der Donau fotografiert, da der Fluss ihr viel bedeutet. Sie hält ein Bild von sich selbst in den Händen, das sie in einem glücklichen Moment am Meer zeigt. Für Nour steht das Wasser auch für konstante Veränderung und Entwicklung, die sie sich auch für ihr Land wünscht. ©UNHCR/Stefanie J. Steindl

UNHCR: Ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema hat Sie auch bereits 2015 nach Österreich geführt. Welche Projekte sind daraus entstanden?

Nour B.: Ich konnte 2015 beim Citizen Artist Incubator in Österreich teilnehmen, aufgrund meiner Interessen für Wissenschaft und Kunst. Daraus haben sich viele Ideen entwickelt, die ich dann in Damaskus umsetzen wollte. Ich habe begonnen, Interviews zu machen mit Freunden von Freunden von Freunden. Ich habe sie nicht einmal aufgenommen, aber es war trotzdem sehr gefährlich

Ich ging der Frage nach, welche Zukunft sich die Syrerinnen und Syrer vorstellen können. Was es überhaupt bedeutet, Syrerin oder Syrer zu sein. In Syrien gibt es viele Religionen, viele verschiedene Ethnien, viele ganz verschiedene Menschen. Wir haben zusammen gelebt, aber darüber wurde nie gesprochen. Und jetzt kommt alles hoch …

Da war zum Beispiel dieser junge Mann mit 23 Jahren. Er ist bewaffnet und mitten im Krieg. Er leidet unter dem Krieg, aber gleichzeitig will er nicht, dass der Krieg aufhört – denn der Krieg hat ihm schon alles genommen. Was soll er nachher machen? Wohin soll er gehen?

Ich wollte mehr erfahren und habe immer mehr Interviews gemacht. Daraus habe ich dann ein kurzes Theaterstück entwickelt und wurde nochmals nach Österreich eingeladen, das war vorigen Sommer, zum Forum Alpbach. Und dann ist es auf einmal so gefährlich für mich geworden, dass ich nicht mehr zurück konnte.

Ich habe das nie geplant, ich hatte fast nichts dabei. Aber so bin ich in Österreich gelandet. Es war ein Schock, aber gleichzeitig war es Glück im Unglück. Das war einer der ersten Ausdrücke, die ich hier in Österreich gelernt habe. Glück im Unglück …

UNHCR: Wie hat sich Ihr Leben seit letztem Sommer entwickelt?

Nour B.: Wie gesagt, ich hatte Glück. Ich habe unglaublich viele nette Menschen getroffen, die mir geholfen haben. Sie haben mich als Mensch wahrgenommen und an mich geglaubt, ohne mich näher zu kennen. Und jetzt, nach sechs Monaten, sehen sie mich bereits als Freundin, vertrauen mir ihre Kinder an, geben mir ihre Wohnungsschlüssel. Das bedeutet mir sehr viel.

Ich habe sofort begonnen, Deutsch zu lernen. Und ich arbeite als Babysitterin, weil das ist eine der wenigen Möglichkeiten, während des Asylverfahrens zu arbeiten. Vom ersten Moment an wollte ich arbeiten, ich will meine Miete selbst zahlen.

Ich bin wirklich dankbar für alles, aber ich möchte für mich selbst sorgen und niemanden zur Last fallen.

Anfangs war es für mich auch schwer, Hilfe anzunehmen. Ich habe einmal eine Freundin gefragt: Warum hilfst du mir eigentlich? Und sie hat Folgendes geantwortet:
„Ich helfe dir, und du hilfst dann wieder jemand anderem, der wieder jemand anderem hilft. Das ist wie eine Kette …“

Meine Freunde haben mich auch vor dunklen Gedanken beschützt und mir geholfen, meine Würde zu bewahren.

Sie helfen mir, weiter an meine Träume zu glauben und das ist es, was wirklich zählt im Leben. Deswegen wache ich jeden Morgen auf und bin dankbar für jeden Tag, jeden Moment. Manchmal stehe ich an der Donau und denke: Danke, danke Wien.