Andrey Vesnin – ein post-sowjetischer Staatenloser

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand Andrey Vesnin plötzlich ohne Staatsbürgerschaft da. Angesichts dieser Tatsache musste er über Jahrzehnte hinweg auf zahlreiche Rechte verzichten, bis er schliesslich im Jahr 2015 von der Schweiz als Staatenloser anerkannt wurde.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand Andrey Vesnin plötzlich ohne Staatsbürgerschaft da. Angesichts dieser Tatsache musste er über Jahrzehnte hinweg auf zahlreiche Rechte verzichten. © UNHCR/Mark Henley

Andrey Vesnin sitzt uns mit aufgewecktem und verschmitztem Gesichtsausdruck gegenüber, den er sich über die Jahre hinweg bewahren konnte. Auf den ersten Blick ist der Weg, der ihn in die Schweiz und nach Lausanne führte – wo er uns auch seine aussergewöhnliche Geschichte erzählt – nicht zu erahnen.

Andrey ist staatenlos. Er teilt das Schicksal von nicht weniger als weltweit zehn Millionen Menschen, dass kein Land ihn als Staatsangehöriger ansieht. Rechtslücken, ethnische und religiöse Diskrimination oder die Tatsache, dass Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an die Kinder weitergeben können, stellen die Hauptursachen von Staatenlosigkeit dar. Bei Andrey war es jedoch anders: Er verlor seine Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit der Auflösung eines Staats.

«Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde ich staatenlos»

Andrey Vesnins, 1962 geboren, hat nach dem Zerfall der Sowjetunion fast 25 Jahre ohne offiziellen Status gelebt.

 

«Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde ich staatenlos», erklärt Andrey. Er wird 1962 in der UdSSR, im Staatsgebiet der heutigen Russischen Föderation geboren. Im Alter von 23 Jahren zog er in das Gebiet des heutigen Lettland. Dort heiratet er, gründet eine Familie und beginnt eine Ausbildung zum Tierarzt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 wird Andrey jedoch die Ausstellung eines lettischen Ausweises verweigert. Infolgedessen wird ihm der Zugang zu rund sechzig verschiedenen Berufen – darunter auch der des Tierarztes – verwehrt.

Andrey kehrt also nach Russland zurück, wo er jedoch auch nicht als Staatsangehöriger anerkannt wird, sondern Flüchtlingsstatus erhält. Er kann seine Ausbildung abschliessen und mehrere Jahre lang arbeiten. In der Hoffnung seine Situation regulieren zu können, kehrt er nach Lettland zurück. Dies gelingt ihm aber nicht und er ist gezwungen unterzutauchen. So muss er unter anderem in einem Wald an der russisch-lettischen Grenze leben. Durch die Jagd von Kleinwild und dank seines Überlebensinstinkts hält er sich so mehrere Jahre über Wasser. Seine Gesundheit leidet jedoch erheblich darunter: Durch zahlreiche Entbehrungen verliert er sogar einige Zähne.

 

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Seinen aufgeweckten und verschmitzten Gesichtsausdruck konnte er sich trotz vieler Hürden über die Jahre hinweg bewahren. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

«Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde ich staatenlos», erklärt Andrey. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 wird Andrey die Ausstellung eines lettischen Ausweises verweigert. Infolgedessen wird ihm der Zugang zu rund sechzig verschiedenen Berufen verwehrt. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Nach Jahren voller ergebnisloser Bemühungen beschliesst er ich der Schweiz Asyl zu beantragen. © UNHCR/Mark Henley

 

Nach Jahren voller ergebnisloser Bemühungen muss er die baltische Republik im Jahr 2005 schliesslich verlassen. Er beschliesst, in der Schweiz Asyl zu beantragen und erhält dort eine vorläufige Aufnahme. Andrey bemüht sich darüber hinaus von den Schweizer Behörden als Staatenloser anerkannt zu werden. Fast 25 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR wird dieser Traum im Jahr 2015 schliesslich Realität und er erhält eine Aufenthaltsgenehmigung sowie einen grünen Ausländerausweis. «Als ich die Neuigkeit erfahren habe, habe ich gefeiert und viel geweint», erinnert er sich. «Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren habe ich mich wie ein Mensch gefühlt – mit einem dauerhaften Status und Rechten.»

«Als ich die Neuigkeit erfahren habe, habe ich gefeiert und viel geweint. Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren habe ich mich wie ein Mensch gefühlt – mit einem dauerhaften Status und Rechten.»

Andrey beschreibt die Erleichterung als die Schweiz seine Staatenlosigkeit anerkannte.

 

Für die meisten von uns sind eine Staatsangehörigkeit und die damit verbundenen Vorteile selbstverständlich. Für einen Staatenlosen wie Andrey, der viele Jahre voller Angst verbracht hat – Angst vor Befragungen, Abschiebung oder Haft, aber auch davor, seine Geschichte zu erzählen – stellt der Erhalt der Ausweispapiere oft einen regelrechten Schock dar. «Aber natürlich einen positiven Schock», versichert er mit einem Lächeln, bei dem man seine Zähne sieht, die er in der Schweiz schliesslich behandeln lassen konnte.

Der grüne Ausländerausweis, den er als Staatenloser erhielt, bietet ihm auch eine neue Freiheit: Nun kann er wieder legal durch die Schweiz und Europa reisen. So hat er zahlreiche Projekte im Kopf, um von der Sozialhilfe unabhängig zu werden. «Bis zu meiner Rente sind es noch zehn Jahre. Ich würde gerne eine Baumschule in den Höhen von Lausanne eröffnen, habe jedoch noch kein Grundstück oder Verpächter gefunden.»

«Bis zu meiner Rente sind es noch zehn Jahre. Ich würde gerne eine Baumschule in den Höhen von Lausanne eröffnen.»

Andrey ist stolz auf die erhaltene Anerkennung und hofft, noch viele Zukunftsprojekte realisieren zu können.

 

Währenddessen engagiert sich Andrey für einen Verband, der gegen genetisch veränderte Organismen ankämpft. Er bereitet biologisches Saatgut vor, das auf spezialisierten Märkten verkauft wird, hilft bei der Beladung der Lieferwagen, nimmt an den Versammlungen teil und bewirtschaftet die Böden, wann immer dies möglich ist. Er würde auch gern einen Verband zur Unterstützung von Staatenlosen gründen: «Ich habe so viele Anstrengungen unternommen und es müsste noch so viel gemacht werden, damit Staatenlose arbeiten oder studieren können und die gleichen Rechte wie alle anderen erhalten, zum Beispiel ein Recht auf eine Bankkarte.»

Auch wenn Andrey durch seinen anerkannten Status nun endlich eine gewisse Sicherheit hat, wird er dennoch weiterhin mit Hürden konfrontiert: Staatenlosigkeit ist ein wenig bekanntes Problem, weshalb er immer wieder auf Reaktionen des Unverständnisses bezüglich seines Status stösst. So besteht in vielen Verwaltungsformularen noch nicht einmal die Möglichkeit, bei dem Feld «Nationalität» die Option «staatenlos» anzugeben.

 

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Fast 25 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR wird er im Jahr 2015 von der Schweiz schliesslich als Staatenloser anerkannt und erhält eine Aufenthaltsgenehmigung sowie einen grünen Ausländerausweis. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Der grüne Ausländerausweis, den er als Staatenloser erhielt, bietet ihm auch eine neue Freiheit: Nun kann er wieder legal durch die Schweiz und Europa reisen. © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

„Bis zu meiner Rente sind es noch zehn Jahre. Ich würde gerne eine Baumschule in den Höhen von Lausanne eröffnen.“ © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

“Die Schweizer Gerichte haben eine hervorragende Arbeit geleistet, auch wenn dies viel Zeit in Anspruch genommen hat: Sie haben meine Rechte anerkannt und es mir ermöglicht, endlich irgendwo Wurzeln zu schlagen.“ © UNHCR/Mark Henley

Switzerland. Andrey Vesnin, stateless man living in Switzerland

Wenn man ihn fragt, welchem Land er sich heute zugehörig fühlt, antwortet er ohne Bitterkeit: «Ich bin eine Art Weltenbürger. Aber nach all den Jahren fühle ich mich natürlich auch ein bisschen wie ein Schweizer.» © UNHCR/Mark Henley

 

Auf das Erreichte blickend, ist Andrey der Schweiz dennoch dankbar. «Die Schweizer Gerichte haben eine hervorragende Arbeit geleistet, auch wenn dies viel Zeit in Anspruch genommen hat: Sie haben meine Rechte anerkannt und es mir ermöglicht, endlich irgendwo Wurzeln zu schlagen.»

Dieser Wunsch nach einer Verwurzelung, für die er mehr als zwei Jahrzehnte lang gegen die verschiedensten Widrigkeiten, Formalitäten und Gegenströmungen gekämpft hat, erklärt zweifellos seine grosse Liebe zu den Bäumen und der Natur. Wenn man ihn fragt, welchem Land er sich heute zugehörig fühlt, antwortet er ohne Bitterkeit: «Ich bin eine Art Weltenbürger. Aber nach all den Jahren fühle ich mich natürlich auch ein bisschen wie ein Schweizer.»


Das Fehlen einer Staatsangehörigkeit führt zu vielen alltäglichen Schwierigkeiten. So wird staatenlosen Personen häufig der Zugang zu grundlegenden Rechten wie politischer Teilhabe, Bildung und Arbeit sowie angemessener Gesundheitsversorgung verwehrt oder erschwert. Staatenlose Personen besitzen meist keine Identitätskarte und keinen Pass, sodass sie sich nicht frei bewegen können. Es ist für sie oftmals auch nicht möglich, ein Bankkonto zu eröffnen oder zu heiraten.

Für mehr Informationen, konsultieren Sie unsere Broschüre Staatenlosigkeit verhindern, Staatenlose schützen.