Gespaltene Familie
Zum zweiten Mal in meinem Leben musste ich meine Heimat aufgeben. Das erste Mal konnte ich nicht einschätzen, was geschah: Ich war 4 Jahre alt, als meine Mutter mit drei Jungen am 31. Oktober 1944 aus Furcht vor den Russen Königsberg in Ostpreussen verlassen musste. Daher wuchs ich in Dresden im Haus des Großvaters auf, also in der sowjetischen Zone.
Dort verlebte ich eine glückliche Kindheit und Jugend – wenn nicht die Drangsalierungen in der weiteren Familie sowie in der Öffentlichkeit und die ideologische Spaltung der Familie gewesen wären: Drei Brüder lebten in ihrer marxistisch-leninistischen orientierten DDR-Welt und waren SED-Mitglieder, während meine Eltern und ich das System infrage stellten.
Die Situation war bedrückend, auch weil man mir das Abitur und eine Ausbildungsstelle verweigern wollte. Begründung: Ich würde den Staat ablehnen; ich sollte zuerst in die Armee und mich „bewähren“. Nur weil ich eine gute Singstimme hatte, konnte es der Chef des Dresdner Kreuzchores durchsetzen, dass ich doch die letzten Klassen der Oberschule besuchen durfte. Die vielen Konzertreisen in den Westen förderten meinen Wunsch, in die Bundesrepublik zu gehen.
Und nun stand ich in Potsdam, wo ich meine Freundin besuchte, vor dem Entschluss. Meine Eltern ahnten nur, dass ich den Schritt wagen würde. Mit großer Angst vor dem Gefängnis setzte ich mich in die S-Bahn, die an der Grenze kontrolliert wurde – aber nur jeder zweite Passagier. Gott sei Dank war ich der Erste! Mit dem Zeugnis im Koffer hätte ich mich selbst verraten.
Ich meinte, nun sei es herum. Doch weit gefehlt. Denn die Familie erfuhr von dem Wechsel nach West-Berlin und fürchtete Nachteile für sich. Der älteste Bruder sollte gerade einen Posten im Volksbildungsministerium erhalten und unternahm einen Versuch, meine Flucht doch noch zu stoppen. Die anderen Brüder glaubten nicht daran, dass ich zurückkehrte. Man überlegte, ob man mich mit Gewalt holen sollte – was zu dieser Zeit in West-Berlin immer wieder geschah. Doch es kam nur zu einem Gespräch mit einem der drei Brüder in West-Berlin, in dem ich deutlich widersprach: Wenn schon Kommunisten Nachteile befürchten, also Sippenhaftung, dann seien sie aber schlechte Kommunisten! Ihr System sei doch angeblich das menschlichste der Welt!
In den folgenden Tagen kam noch ein anonymer Drohbrief, so dass ich es nicht wagte, das Haus zu verlassen. Erst als ich zusammen mit anderen per Flugzeug in die Bundesrepublik geflogen wurde und in Hannover ankam, fühlte ich mich sicher. Doch wie sollte es mir mit meinen 18 Jahren alleine in dem zwar nicht ganz unbekannten, doch eben auch fremden Land ergehen?
Eberhard Wilms, DDR-Flüchtling
Vielen Dank an das Zeitzeugenbüro für diese Geschichte.