Schriftsteller Dimitré Dinev über seine Flucht

Es geschah in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Österreich. Mein Freund Rado und ich hatten es gerade über die Grenze, durch Kälte, Schnee, Nacht bis nach Linz geschafft in der fehlgeleiteten Hoffnung, dort ein Auffanglager für Flüchtlinge zu finden. Ein Lager fanden wir nicht, was kein Wunder war, denn in Linz gab es ja auch keines. Doch wir hatten Glück, und wir fanden den Weg zu einem Flüchtlingsheim. Ein Rumäne, den ich auf den vereisten Straßen angesprochen hatte, führte uns dorthin, und er versprach uns, hier untergebrachte Bulgaren, die er kannte, zu verständigen. Wir hatten uns von diesem ersten Wunder noch nicht erholt, als sie kamen. Es war ein Pärchen aus meiner Heimatstadt. Eine schwarzhaarige energische Frau, ein dunkelblonder in sich ruhender Mann. Sie gaben uns einen Teil ihrer Abendessensration, eine Packung bulgarische Zigaretten und eine Menge gute Ratschläge. In ihrem Zimmer konnten wir nicht übernachten, denn würde man bei ihnen zwei illegale Personen erwischen, würden sie ihren Platz in dem Heim verlieren. Doch sie führten uns in einen gut geheizten Raum, eine Etagenküche, wo wir die Nacht verbringen konnten. Mein Freund legte sich auf den Boden, einen Band von Hesse unter dem Kopf, in dem mehrere seiner Werke, unter anderem auch Siddharta, versammelt waren und dessen Umfang sich als sehr günstig für diese Gelegenheit erwies. Ich, da ich der Kleinere war, streckte mich auf der riesigen Arbeitsplatte aus, mit den Füßen leicht an die Kochplatten stoßend, und wir verfielen in eine Art Nirwana, das nicht einmal bei Hesse vorkommt.

Am nächsten Morgen erschienen unsere Wohltäter wieder, brachten uns die Hälfte ihres Frühstücks und klärten uns auf, dass wir zuerst durch das Flüchtlingslager Traiskirchen mussten. Von dort wird man dann in eines der vielen im Land verstreuten Flüchtlingsheime eingeteilt, von dort nimmt das Leben eines jeden legalen Flüchtlings im Lande seinen Anfang. Sie gaben uns einen Zettel mit der Wegbeschreibung und, da wir kein Geld hatten, noch 50 Schilling. Das Geld, rieten sie uns, sollten wir nur für Brot ausgeben, denn wenn es gerade einen großen Andrang gäbe, könnte es Tage dauern, bis wir ins Lager aufgenommen würden. Und solange man nicht im System erfasst war, bekam man auch kein Essen. Wir wollten schon aufbrechen, als der Mann uns noch etwas sagte. Er sagte uns, sollte uns das Geld ausgehen, noch bevor wir die Essenskupons in Empfang nehmen konnten, dann sollten wir unbedingt das kleine Wohnheim, das sich im Lagerhof befindet, aufsuchen und an einer bestimmten Tür im ersten Stock anklopfen. Eine junge Flüchtlingsfamilie wohne dort, eine Familie, die noch nie jemanden, der an ihre Tür geklopft hat, hungrig gelassen habe. Er sagte es mit jener Sicherheit in der Stimme, als ob er uns gerade den Weg zu einer sich seit Jahrhunderten an derselben Stelle befindlichen Natursehenswürdigkeit beschrieb. Sie wünschten uns viel Glück. Wir reichten uns die Hände. Dann gingen wir.

Noch am selben Tag erreichten wir per Autostopp das Lager, und, ja, wir mussten lange warten, und, ja, die 50 Schilling waren bald aus. Noch waren wir zwar nicht hungrig, denn trockenes Brot hatten wir noch genug, doch nach ein wenig Abwechslung sehnten wir uns und nach noch etwas, wir waren neugierig, verdammt noch mal waren wir neugierig, wie wohl diese Familie aussehen mochte, die niemanden zurückschickte. Wir besuchten also das kleine Wohnheim, fanden das Zimmer, standen vor der Tür. Eine Tür ohne Glocke und ohne Namensschild. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns trauten anzuklopfen.

Wer in seinem Leben nie betteln musste, hat auch nie erfahren, was für eine Reise die Seele durchmachen, was für steile Hänge sie erklimmen, in welch tiefe Abgründe sie stürzen, welche Stürme sie ertragen muss, bevor sie mit Gesten und Lippen die erste Bitte zu formen imstande ist.

Es hat also eine Weile gedauert, bevor unsere Hände es lernten, die Tür so zu berühren, dass ein Klopfen entstand, als wäre sie aus glühendem Eisen und nicht aus billigen Sperrholzplatten. Wir sammelten gerade Kräfte, um nochmals anzuklopfen, als die Tür aufging. Eine junge Frau erschien, sah uns an, ließ uns eintreten. In dem Zimmer duftete es nach unbekannten Blumen und bekannten Speisen. Es duftete nach Heim, nach Halt, nach Hoffnung, nach all jenen Gerüchen, die wir entweder verlassen oder vermisst hatten. In dem Zimmer spielte ein Kind. Ihr Mann sei auf Dienstreise in der Schweiz, aber morgen Abend werde er wieder hier sein und sich freuen, uns kennen zu lernen, erklärte sie, während sie uns an den Tisch einlud und das Essen aufwärmte. Das Essen dampfte, das Kind spielte, die Frau erzählte, die Zeit existierte nicht mehr. Sie war nur Dampf und Spiel und Wort. Lauter Dinge, die leicht waren und zart. Die Zeit existierte nicht mehr. Sie streichelte nur.

Wir aßen, wir scherzten, wir redeten viel, wir redeten lang, auch lange nachdem das Kind ins Bett gelegt worden war. Wir redeten bis tief in die Nacht. Danach gingen wir. Wir gingen zurück zu unseren auf den Boden gelegten Matratzen. Am nächsten Tag wurden wir ins Lager aufgenommen. Wir bekamen Betten und Decken und Essenskupons. Trotzdem besuchten wir am Abend, diesmal satt, die Familie wieder und lernten auch den Mann kennen. Solange wir in Traiskirchen verweilten, verging kein Abend, an dem wir nicht mindestens ein paar Stunden bei ihnen verbrachten. Als der Tag kam, an dem wir das Lager verlassen mussten, gingen wir uns verabschieden. Sie wünschten uns viel Glück. Wir sahen sie nie wieder.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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