Fluchthilfe – Der Tunnel 29

Joachim Rudolph

Foto: privat

Nach meiner Flucht in der Nacht vom 28. zum 29. September 1961 nach West-Berlin setzte ich im Wintersemester 1961/62 mein Studium der Nachrichtentechnik an der Technischen Universität Berlin fort. Anfang 1962 wurde ich im Studentenwohnheim von zwei italienischen Kommilitonen angesprochen. Sie planten, für einen Studienkollegen und dessen Familie, die in Ost-Berlin lebten, einen Fluchttunnel zu bauen. Sie kannten meine Fluchtgeschichte und baten um meine Mithilfe.

Bereits im September 1961 entstanden die ersten Fluchttunnel
Viele davon waren erfolgreich, andere wurden an die Stasi verraten. Es wurden Flüchtlinge verhaftet und verurteilt. Zwei Tunnelbauer waren sogar in einem Ost-Berliner Keller von Grenzsoldaten erschossen worden. Trotz der Gefahr entschied ich mich, beim Tunnelbau mitzuarbeiten. Dafür gab es zwei wesentliche Gründe: Erstens war ich ebenfalls erst nach der Grenzschließung nach West-Berlin geflüchtet und konnte mich sehr gut in die ausweglose Situation dieser Familie hineinversetzen. Zweitens protestierte die West-Berliner Bevölkerung vehement gegen die Grenzschließung. Immer wieder kam es zu Demonstrationen an der Grenze und zu großen Kundgebungen mit Zehntausenden Bürgern West-Berlins. Ja, es kam sogar zu Sprengstoffanschlägen an der Berliner Mauer. Und diese Stimmung übertrug sich natürlich auch auf mich. So begannen wir Anfang April 1962 mit dem Bau unseres Tunnels in der Bernauer Straße.

Der Tunnel sollte 135 Meter lang werden und unter Straßen und Häuser entlang führen. Niemand von uns hatte jemals einen Tunnel gegraben und so mussten nach immer wieder neuen Problemen schwierige Entscheidungen getroffen werden: Klaustrophobie, Wassereinbrüche durch gebrochene Versorgungsleitungen, Transport und Unterbringung des abgegrabenen Materials, Vermessung und Elektrifizierung des Tunnels, Benachrichtigung und Kontakt mit den potentiellen Flüchtlingen in Ost-Berlin und vieles mehr.

Die Tunnelöffnung war für den 14. September 1962 geplant
Jeder der Tunnelbauer hatten eine bestimmte Aufgabe übernommen. Zu Dritt standen wir hinter der mit Dietrichen aufgeschlossenen Kellertür auf der Treppe im Ost-Berliner Keller und warteten auf die ersten Flüchtlinge. Wiederholt hörten wir Hausbewohner, die durch den Hausflur gingen und sich unterhielten. Und dann hörten wir sehr zögerliche, unsichere Schritte von mehreren Personen. Plötzlich bewegte sich die Klinke der Kellertür. Unsere Nervosität erreichte ihren Höhepunkt. Wir öffneten von innen die Kellertür – der Ost-Berliner Studienfreund mit seiner Familie stand vor der Tür! Und diesen dann folgenden emotionalen Moment werde ich in meinem Leben nie mehr vergessen können – der Italiener trat zwei Kellerstufen hoch in den Hausflur und umarmte seinen Studienfreund …!

Insgesamt konnten durch diesen Tunnel 29 Flüchtlinge gesund und unverletzt West-Berlin erreichen. Deshalb ist er unter dem Namen „Tunnel 29“ bekannt geworden.

Joachim Rudolph

Herzlichen Dank an das Zeitzeugenbüro für diese Geschichte.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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