Flüchtlinge helfen Flüchtlingen

Der Verein „Afghanische Jugendliche – Neuer Start in Österreich“ ist eine zentrale Anlaufstelle für afghanische Flüchtlinge aus ganz Österreich. Die Idee des Vereins lautet: Flüchtlinge helfen Flüchtlingen.

Shokat Ali mit Kindern der Familie Rajabi und Marilise Gudenus. © UNHCR/Mark Henley

Alles begann 2010 mit einem Zugticket für einen achtzehn Jahre alten Weggefährten. Damals kratzten Shokat Ali Walizadeh und seine Freunde, die wie er alle als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Österreich gekommen waren, zehn Euro für den Fahrschein zusammen, um ihrem verzweifelten Freund die Zugfahrt in die nächste Stadt zu ermöglichen. Dort wollte dieser an einem Deutschkurs teilnehmen, weil ihm diese Möglichkeit in der abgelegenen Gegend, in der sich seine Unterkunft befand, fehlte. „Er war glücklich und wir haben uns auch gefreut. Auf einmal haben wir realisiert, dass wir einander auf einfachem Weg helfen können“, erinnert sich Shokat Ali. Eine Idee war geboren – Flüchtlinge helfen Flüchtlingen.

Ein paar Monate später, im Oktober 2010, gründeten Shokat Ali und seine Freunde den Verein „Afghanische Jugendliche – Neuer Start in Österreich“. Heute haben sie über vierzig Mitglieder und ihr Büro im 7. Wiener Bezirk ist ein Treffpunkt für afghanische Flüchtlinge aus ganz Österreich. Der Verein finanziert sich über Mitgliedsbeiträge von zehn Euro im Monat und über Spenden.

Die eigene Erfahrung einbringen

Seit seiner Gründung hat der Verein verschiedene Projekte umgesetzt, wie etwa einen Workshop zum Umgang mit Geld und Banken oder eine Simulationskonferenz zum Thema „Integration von jungen Flüchtlingen an Wiener Schulen“ in Zusammenarbeit mit UNHCR und IOM. Es gab interkulturelle Fußballspiele und der Verein half jungen Afghanen dabei, Ausbildungsplätze in Österreich zu finden.

Im Sommer 2015 beschlossen der inzwischen 25 Jahre alte Shokat Ali und seine Freunde vor dem Hintergrund der vielen in Österreich neuankommenden Flüchtlinge zu überlegen, wie sie – mit ihrer eigenen Erfahrung als Flüchtlinge – noch mehr tun könnten.

Da Kleidung, Lebensmittel und Spielzeug schon in großem Umfang von Hilfsorganisationen und anderen freiwilligen Helfern gesammelt wurden, entschieden sie sich, stattdessen Schreibmaterialien und Wörterbücher an afghanische Asylsuchende zu verteilen und ihnen so das Ankommen in Österreich zu erleichtern. Unter anderem verteilten sie in dieser Zeit auch 10.000 Handbücher „Deutsch Lernen – Learning German“, die von Studenten der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich erstellt worden waren. „Wir haben für diese Idee viel positives Feedback bekommen“, erzählt Shokat Ali nicht ohne Stolz von der Aktion. Unterdessen meldeten sich immer mehr österreichische Lehrer bei Shokat Ali, um ihn nach Rat zu fragen, wenn afghanische Schüler in ihre Klassen kamen.

Persönliches Engagement

So hat Shokat Ali auch den 14-jährigen Ajmal kennengelernt, der ebenfalls aus Afghanistan kommt. Der zierliche und nachdenklich wirkende Junge mit Jeans und tomatenroten Sneakers ist einer von rund 2.260 afghanischen Asylsuchenden, die 2014 als unbegleitete Minderjährige nach Österreich gekommen sind. „Es war sehr schwierig als ich ankam. Alles war anders, ungewohnt. Shokat Ali hat mir sehr dabei geholfen, mich zurechtzufinden. Hätte ich ihn nicht getroffen, hätte mein Leben vielleicht eine andere Wendung genommen“, erzählt Ajmal leise.

Shokat Ali hatte Ajmal sofort für sich gewonnen, weil er dessen Leidenschaft unterstützte: Kickboxen. „Ich trainiere, um fit zu bleiben und weil ich eines Tages Medaillen für Österreich gewinnen will“, sagt er mit leuchtenden Augen. Shokat Ali ist für den Teenager eine Art Patenonkel geworden und sie unternehmen viel zusammen. Als Ajmals Eltern aus Afghanistan anriefen, in der Hoffnung, er könnte ihnen Geld zuschicken, griff Shokat Ali ein: „Ich habe ihnen erklärt, dass Ajmal keine Arbeitserlaubnis hat, weil er noch minderjährig ist und es in Österreich eine Schulpflicht gibt. Das haben die Eltern verstanden. Sie hatten von Schmugglern falsche Informationen über Arbeitsgenehmigungen in Österreich erhalten.“

Ajmal besucht mittlerweile eine Schule in Wien und lernt schnell Deutsch. „Ich vermisse meine Familie. Ich würde alles tun, um für ihre Sicherheit zu sorgen und um meinen Geschwistern einen Schulbesuch zu ermöglichen“, seufzt er. „Aber ich will ich es in Österreich zu etwas bringen – so wie Shokat Ali“, sagt Ajmal und lacht.

Flüchtlinge und Österreicher zusammenbringen

Auch Österreicher, die afghanische Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben, treten an ihn und seine Mitstreiter im Verein heran und bitten um Unterstützung. Marilise und Martin Gudenus etwa haben alte Stallungen von Schloss Mühlbach in Niederösterreich, das ihrer Familie gehört, renoviert und beherbergen dort nun eine zehnköpfige afghanische Familie. Gul Rahman und Gul Bibi erreichten Österreich Anfang Oktober 2015 zusammen mit ihren fünf Kindern und der Familie ihrer Tochter nach einer langen entbehrungsreichen Reise. „Wir verließen Afghanistan um zu überleben. Ich wollte meinen Kindern eine sichere Zukunft ermöglichen und sicherstellen, dass sie nicht von islamistischen Ideologien beeinflusst werden“, sagt der vierzig Jahre alte Gul Rahman und wischt sich verlegen eine Träne aus dem Auge. Mit den Wörterbüchern und Schreibmaterialien, die sie von Shokat Ali bekommen haben, hat die Familie mittlerweile selbstständig begonnen, Deutsch zu lernen. An den Wänden hängen Zettel mit handgeschriebenen Wörtern: Zahnbürste, Reis, Honig, Eule, Gans, Hose, Brücke, Kirche, Karotten…

Die schüchternen Burschen der Familie haben aber noch einen anderen Wunsch: einen Drachen. Drachensteigen war in Afghanistan unter den Taliban verboten, nun hoffen die Jungs darauf, dass dieser Wunsch hier, in einem abgeschiedenen österreichischen Tal, erfüllt werden kann. Shokat Ali verspricht wiederzukommen – mit einem Drachen im Gepäck.

Er und seine Mitstreiter spüren trotz solcher positiven Erfahrungen aber auch eine Atmosphäre, die von zunehmender Angst und steigendem Misstrauen gegenüber Flüchtlingen und Migranten in Österreich geprägt ist. Um dieser Stimmung etwas entgegenzusetzen, planen sie, Gemeinden in ganz Österreich zu besuchen. „Wir wollen die individuellen Lebensgeschichten von Flüchtlingen erzählen, damit die Leute hier ein besseres Verständnis dafür bekommen, was es heißt, ein Flüchtling zu sein“, sagt Shokat Ali mit einem Anflug von Sorge in seiner Stimme.