Mit der „Zweitfamilie“ gegen das Heimweh

Nach fast zweijähriger Flucht wollte Bilal Aljaber schon nach Syrien zurückkehren bis das Berliner Ehepaar Rai ihn und seinen Bruder Amr in ihr Berliner Haus aufnahmen.

Bilal Aljaber (26, sitzend) mit seinen Bruder Amr (17), dem Berliner Ehepaar Edgar und Amelie Rai und ihren Kindern Nelly (9) und Moritz (12). © UNHCR/Aubrey Wade

BERLIN, Deutschland – Fast zwei Jahre war Bilal auf der Flucht bis er Europa erreichte. Endlich am Ziel, hatte der 27-jährige Flüchtling aus Syrien Zweifel. „Ich hatte dieses starke Gefühl der Reue und wollte nach Hause zurückkehren, konnte aber nicht“, sagt Bilal. „Ich vermisste meine Familie so sehr.“

Bilal, der ursprünglich aus Damaskus stammt, hatte Glück. Er fand die Berliner Edgar und Amelie mit ihren beiden Kindern, die für ihn zu einer Ersatzfamilie wurden.

Schon 2013, kurz bevor er seinen ersten Abschluss in englischer Literatur an der Damaszener Universität machen konnte, musste er mit seinen beiden Brüdern nach Jordanien fliehen. Viele seiner Freunde wurde zu der Zeit verhaftet und schon die täglichen Besorgungen wurden zu gefährlichen Wagnis. Dann wurde er zum Militärdient einberufen.

„Niemals hätte ich meine eigenen Leute getötet“, sagt Bilal heute. Nach anderthalb Jahren in Jordanien, in denen Bilal weder arbeiten noch studieren konnte, beschloss er gegen den Rat seiner Eltern die Flucht nach Europa. In den ersten sieben Monaten in Deutschland wohnte er in einer Unterkunft für Asylbewerber und half er als Übersetzer für Arabisch. Als er befreundete Helfer in seiner Unterkunft fragte, ob es eine Möglichkeit gäbe allein zu wohnen, stellte der Leiter ihm Edgar und Amelie vor.

„Sie sind wie meine zweite Familie“, sagt Bilal. „Alles, womit sie mich unterstützen, tun sie mit ganzen Herzen. Wir sind eng befreundet und das ist eines der schönsten Dinge, die mir je passiert sind. Ich fühle, dass ich hier jemanden habe, jemand der mich unterstützt, mir hilft. Ich bin nicht ganz allein.“

Edgar, Autor und Besitzer eines Buchladens, beschreibt das erste Treffen mit Bilal als „Liebe auf den ersten Blick“. Bei einem Kaffee bot er ihm das Zimmer seiner ältesten Tochter an, die gerade ausgezogen war.

„Man kann nicht einfach so tun als ob einen das alles nichts anginge“, sagt Edgar. „Man muss sich irgendwie positionieren“.

Für Bilal war sein neues Zimmer wie „ein Schloss“ nachdem er in der Asylunterkunft einen Raum mit fünf anderen Männern teilen musste. Im September 2015 zog er bei Familie Rai ein.

Zwei andere Kinder der Rais lebten noch im Haushalt: Moritz (12) und Nelly (10). Bilal spielt mit den Kindern und passt auf sie auf wenn Edgar und Amelie später nach Hause kommen oder abends ausgehen. Im Gegenzug hilft Edgar Bilal mit Übersetzungen und bei Behördengängen.

Einige Monate nachdem Bilal bei der Familie eingezogen war, kam sein jüngerer Bruder Amr nach Deutschland, ohne dass Bilal davon wusste. Die Rais zögerten nicht und nahmen auch ihn auf. Anfangs wohnte Amr mit Bilal in einem Zimmer und doch Moritz bot ihm sein Zimmer an und zog in das seiner Schwester.

Amelie sagt, die syrischen Brüder verhielten sich so gut, dass ein Zusammenleben ohne Probleme funktioniere.

„Ich nenne sie Küchen-Nazis“, sagt Amelie. „Wenn sie kochen, ist die Küche danach blitzblank. Wir mussten nie Hausregeln aufstellen – da hatten wir viel Glück.“

Amr hat mittlerweile ein Zweijahresstipendium am renommierten Bosch United World College im entfernten Freiburg bekommen und wird zum neuen Schuljahr ausziehen. Die Rais organisierten eine Feier für ihn und Edgar überreichte ihm eine Goldmünze seines Onkels.

„Egal wohin man geht, es kann ein neuer Anfang sein“, sagte Edgar als er Amr die Münze überreichte. Amr möchte gern Architekt werden, um irgendwann seine syrische Heimat aufbauen zu können.

Bilal brennt darauf weiterzustudieren. Nun da sich sein Deutsch verbessert hat, arbeitet er halbtags in der Asylunterkunft, in der er zuerst wohnte und übersetzt zwischen Deutsch, Englisch und Arabisch.

Jedes Mal wenn er über einen Auszug bei den Rais nachdenkt versichern sie ihm, dass er bleiben könne, solange er wolle.

„Wir haben einen Mietvertrag, aber er ist unbefristet“, sagt Bilal.