Mein Sohn aus Afghanistan
Ich bin Deutsche, aber mein ältester Sohn – Martin – ist Afghane. Er ist jetzt 21 Jahre alt und lebt seit fast sechs Jahren bei uns in Deutschland. Martin musste sein Land verlassen als er 12 Jahre alt war, nachdem er seine ganze Familie verloren hatte. Er war viereinhalb Jahre auf der Flucht, ganz alleine. In dieser Zeit hat er schreckliche Dinge erlebt. Seine Geschichte ist eine Geschichte voller Leid und Not, aber auch voller Mut und Lebenswillen.
Er floh über Pakistan in den Iran, wurde tagelang in dunklen Kellern und Wohnungen festgehalten, bis er schließlich mit einer Gruppe von Flüchtlingen über die Berge in die Türkei kam. Sie mussten tagelang durch Schnee laufen, der ihm manchmal bis zur Brust reichte. Jeder Flüchtling, der nicht mehr mitkam, zu erschöpft war oder zu langsam, wurde von den Schleppern einfach so erschossen. Auch Kinder, die vor Hunger und Kälte weinten, wurden ihren Eltern aus den Armen gerissen, erschossen und am Weg liegengelassen.
In der Türkei wurde er wieder von einem Verlies ins nächste geschafft, bis er eines Nachts mit drei Männern zusammen irgendwo an der Küste abgesetzt wurde, mit einem Schlauchboot. Die Schlepper sagten ihnen, sie müssten auf “das Licht dort hinten” zurudern. Die vier Afghanen hatten keine Ahnung , was sie mit dem Boot tun sollten – keiner hatte je das Meer gesehen, keiner konnte schwimmen. Sie hatten nur die Geschichten gehört von den vielen Flüchtlingen, die vor ihnen die Flucht über das Meer nicht überlebt hatten. Sie mussten drei Versuche an drei aufeinanderfolgenden Nächten starten, bis sie es schafften, mit dem Boot vorwärts zu kommen. Weil sie es nicht schafften, zusammen zu paddeln und dabei geradeaus zu fahren, zwangen sie Martin zu rudern – er war erst 13 Jahre alt und hatte furchtbare Angst vor dem Wasser, aber sie machten ihn mit Schlägen gefügig. Mehrmals drohte ihr Boot, das inzwischen auch schon Löcher hatte, in den Wellen der großen Schiffe zu kentern, aber schließlich, im Morgengrauen, wurden sie an Land gespült – und bereits von der Polizei erwartet.
Wochenlang wurde Martin im Lager von Pagani bei Mytilene auf Lesbos festgehalten, in einem völlig überfüllten Raum ohne Betten, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und ohne ausreichende Ernährung. Irgendwann wurde er auf die Straße gesetzt, mit einem Ticket für die Fähre nach Athen. In Patras lebte er lange auf der Straße, versuchte immer wieder, den Hafen zu erreichen und auf eine der Fähren nach Italien zu kommen. Wie oft er von der Polizei geschnappt und geschlagen wurde, lässt sich nicht zählen!
Einige Male ist es ihm gelungen, aber dann wurde er in Italien aufgegriffen und zurückgeschickt nach Griechenland. Endlich schaffte er auch diese Hürde – unter einem LKW versteckt verließ er den Hafen von Venedig. Der LKW-Fahrer hatte jedoch bemerkt, dass er einen blinden Passagier hatte und versuchte mit allen möglichen Manövern, diesen loszuwerden. Letztendlich gelang ihm das – Martin fiel auf die Autobahn, wurde von einem nachfolgenden Auto überfahren und erlitt mehrfache Brüche, vor allem an den Beinen. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt, der wohl von einer kirchlichen Organisation finanziert wurde, wurde er mit einem Gips, der vom Fuß bis zur Hüfte reichte, auf die Straße entlassen. Er kämpfte sich nach Rom durch, lebte wieder einige Zeit auf der Straße und schlug sich schließlich den Gips mit einem Stein auf, weil er ihn am Laufen und vor allem an der Flucht vor der Polizei hinderte.
Kurze Zeit später erreichte er Calais in Frankreich – jemand hatte ihm erzählt, er solle nach England gehen, dort sei es gut. In England wurde er von der Polizei aufgegriffen, beantragte Asyl und wurde sofort in ein Abschiebecenter gebracht. Sein Asylantrag wurde abgelehnt und er wurde als vierzehnjähriger Junge nach Griechenland abgeschoben. In Athen erwartete ihn die Polizei bereits am Flughafen und brachte ihn direkt ins Gefängnis. Die griechischen Lager und Gefängnisse sind für die Flüchtlinge der Horror – Martin erzählt aus dieser Zeit Dinge, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen! Nach einigen Wochen wurde er wieder auf die Straße gesetzt, ohne seine wenigen Habseligkeiten zurückzubekommen. Er besaß nichts mehr und suchte sich eine Arbeit auf einer Olivenplantage, um Geld zu verdienen. Hier musste er mit anderen “Illegalen” von morgens um 4 bis abends um 23 h Oliven und Orangen ernten, mit nur zwei kurzen Pausen am Tag und unter ständigen Schlägen der Aufseher. Als er am Ende des Monats zumindest einen Teil seines Lohnes ausbezahlt bekam, machte er sich wieder auf den Weg – und landete Wochen später in Paris. Dort sagte ihm jemand, er müsse einen Zug nach Deutschland nehmen und in der ersten Stadt hinter der Grenze zur Polizei gehen und um Asyl bitten. Das wäre ein sicherer Weg….
Martin war jetzt 15 Jahre alt, eigentlich noch ein Kind! Er erreichte Deutschland – wurde jedoch gleich hinter der Grenze von der Bundespolizei aufgegriffen und nach einer Odyssee durch mehrere Gefängnisse nach Hannover-Langenhagen gebracht. Hier saß er über vier Monate in Abschiebehaft – ohne Anwalt, ohne Vormund und ohne Hilfe. Kein Mensch wusste, dass er überhaupt existiert, keiner außerhalb der Mauern kannte seinen Namen, niemand hat nach ihm gefragt oder sich um ihn gekümmert. Es war, als sei er gar nicht vorhanden! Zwei Mal wurde eine Abschiebung nach Griechenland versucht, aber jedesmal weigerte sich der Pilot des Flugzeuges, den schreienden und weinenden Jungen mitzunehmen. Er bat sogar die Polizisten, ihn zu töten, damit er nicht wieder nach Griechenland müsse! Er versuchte, sich das Leben zu nehmen, nur um nicht wieder in die Hölle eines griechischen Gefängnisses zu müssen. Durch einen glücklichen Zufall wurde ein Anwalt auf ihn aufmerksam und erwirkte seine Freilassung.
Martin kam nach Oldenburg, in das Lager Blankenburg, wo ich ihn traf. Sehr schnell entwickelte sich zwischen ihm, mir und meinen drei Kindern ein enges Verhältnis und als ihm wieder eine Abschiebung drohte, nahmen wir ihn bei uns auf. Jetzt lebt er seit fast sechs Jahren bei uns. Anfangs hatte er furchtbare Albträume, Angst vor den Menschen, Angst vor Abschiebung, er war schwer traumatisiert und ist kaum je zur Ruhe gekommen. Inzwischen ist er an Körper und Geist wieder weitestgehend gesund, er ist glücklich, und zufrieden. Niemals werde ich den Moment vergessen, als er nach Monaten zum ersten Mal gelacht hat! Das war wie ein Wunder. Sein größter Wunsch war immer, zur Schule gehen zu dürfen. In Afghanistan war ihm das als Hazara verwehrt. Mit unglaublich viel Kraft und Ehrgeiz hat er es geschafft, sich von der 9. Klasse einer Hauptschule bis zur 11. Klasse eines Gymnasium zu kämpfen. Nächstes Jahr wird er sein Abitur machen.
Er musste aus seiner Heimat fliehen und suchte Sicherheit, Frieden und Geborgenheit – stattdessen fand er Lager, Gefängnisse, Schläge, Angst und Hunger. Martin sagt, hier in Deutschland sei ihm nicht nur ein zweites Leben geschenkt worden, sondern auch eine Familie. Ich bin dankbar, dass ich Martin treffen durfte – er ist eine Bereicherung und ein Geschenk für unser Leben und für unsere Familie. Nicht nur er hat von uns gelernt, auch wir haben viel von ihm gelernt. Seine Art, das Leben zu lieben, um sein Glück zu kämpfen und sich trotz vieler Rückschläge nicht unterkriegen zu lassen ist ein Vorbild für uns und nötigt uns tiefen Respekt ab.
Ruth Bensmail, Deutschland