Zuzanas erster Schultag

In den letzten zwei Wochen vor Schulbeginn freute ich mich immer auf den ersten Schultag. Ja, ich bin gern in die Schule gegangen.

Wie in einem Bienenstock summte es in dem Schulgebäude in der Resslova ulice. Jetzt einmal schauen, in welcher Klasse wir untergebracht sind. Bereits im zweiten Stock, also unter den Ältesten, wie aufregend. Da werden wir in den großen Pausen, während wir auf dem Gang „promenieren“ müssen, denn niemand darf in der Pause in der Klasse bleiben, unter den ältesten Burschen (fünfzehn Jahre…) auf und ab schreiten, sie heimlich beobachten, uns vielleicht in den einen oder anderen verknallen. Alles ganz unschuldig.

Aber nein. Heuer ist alles ganz anders. Jetzt sitze ich auf meinem Bett in meinem kleinen Zimmer in der Theresiengasse in Wien und denke an den nächsten Tag, den ersten Schultag, den fremden, unbekannten, den erschreckenden.

Erster Schultag in der neuen Schule.

Vorbei wird es sein mit den faden Tagen, die kaum mit etwas gefüllt werden konnten. Fernsehen, Lesen, Einkaufen. Zu langweilig für eine Sechzehnjährige. Ein Jahr meines Lebens in dem fast nichts geschah, außer der Flucht nach Österreich. So kurz mir die Jahre davor vorkommen, so lang war dieses Jahr, das doch so wichtig für mein weiteres Leben wurde. Als wir im Taxi um die Ecke von der Gorazdova bogen, auf dem Weg zum Bahnhof, auf dem Weg in ein neues Leben, in ein anderes Leben, drehte ich mich nochmals um, um unser Haus verschwinden zu sehen. Und da waren sie, zwei meiner besten Schulfreunde, Honza und Pavel, auch sie bogen um die Ecke, und ich dachte: Ihr wisst nicht, dass ihr mich nie wieder sehen werdet, dass ich flüchte, dass ich euch und alles was ich bisher kannte verlasse, dass nichts wie früher sein wird, dass ich in ein paar Stunden mein bisheriges Leben verlieren werde.

Bei der Anmeldung in der Schule begutachtete man mich kritisch, merkte an, dass ich eigentlich gar nicht deutsch könne, schlug vor, dass wir zu Hause auch deutsch sprechen sollten. Mein Vater verwehrte sich dagegen. „Wenn Sie, sehr geehrte Frau Direktorin, ins Ausland reisen, fangen Sie gleich an, in einer anderen Sprache zu sprechen? Oder mit Ihren Kindern? Würden Sie im Ausland nicht auch noch immer deutsch sprechen?“ Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich Glück, dass man mich im Gymnasium aufnahm, und auf meine Fähigkeiten vertraute. Heute, liebe Politiker, würden sie meinem Vater wohl empfehlen, mich in einen Kurs zu schicken, und dann vielleicht in eine Lehre. Nix Gymnasium, du böses Kind mit nichtdeutscher Muttersprache…

Aber morgen wird überhaupt vieles anders. Was ist das in meinem Magen, das sich so krampfhaft zusammen zieht? Ist es Angst? Ich will es mir nicht eingestehen, aber ich habe eine panische Angst. Schaffe ich es wirklich? Meine Eltern lassen Bedenken gar nicht zu.

Sie sind überzeugt: Ich werde es schaffen. Es macht die Sache für sie auch leichter, auf mich zu vertrauen. Sie haben auch so genug um die Ohren. Ein neues Leben. Ein Ausländer-Leben. Ein Asylanten-Leben.Ich liege im Bett und denke an früher. Ich finde Trost in den Erinnerungen an Zeiten, als ich jedes Jahr unter den drei besten Schülerinnen war, so mühelos, so einfach, so selbstverständlich. Damit wird es vorbei sein.

Wenn ich heute zurück denke, bin ich froh, dass ich damals nicht wusste, wie schwer das alles sein würde. Ein Tag nach dem anderen, jeden Tag etwas mehr von dieser seltsamen Sprache, die mir so hart vorkommt, viel schwerer als Englisch, aber nicht so schwer wie Latein, das ich auch noch aufholen muss.

Irgendwann schlafe ich dann doch ein. In der Früh um sieben weckt mich meine Mutter. Ich kann nicht frühstücken, dieser Stein liegt noch immer im Magen. Etwas Früchtetee, diesen künstlich aromatisierten, grauslichen Tee, den ich damals so mochte. Bei uns – also in Prag, gab es nur Hagebutte oder Kamille. In Wien gibt es eine große Auswahl. Toll. Hier gibt es eine Auswahl an allem. Toll. Wenn nur dieser Stein nicht wäre.

Halb. Die Handtasche, die Schuhe, beide weiß, ich sehe die Handtasche noch heute, aus Knautschlack, mit einer goldenen Spange. Auch die ganz neu, passend zu den Schuhen, darauf wurde immer geachtet. Gut angezogen, ordentlich. Vor drei Tagen waren wir noch Unterwäsche einkaufen, alles neu, damit ich mich nicht genieren muss, wenn ich mich für die Turnstunde ausziehen werde müssen. Noch aufs Klo. Tief durchatmen. Könnte ich doch die Zeit zurückdrehen, wieder in meine alte Schule gehen, in die Resslovka, ich würde fliegen. Meine Mutter ruft, ist nervös, ich soll nicht zu spät kommen.

Die Tür hinter mir zu, zwei Stockwerke, auf die Straße, das Herz rast, ich will nicht und muss, das muss ich einfach durchstehen.

In der Eingangshalle des Schulgebäudes sind auf einer Tafel die Namen der Schülerinnen und die Aufteilung in die Klassen angeschlagen. Mein Name, nein, das ist nicht mein Name, ich heiße Brejchova, hier steht Breycha, und der Vorname ist auch anders. Wo bleibt mein Zuzana, mein Name, hier steht Susanne, mein Vater nennt sich offiziell auch Gottlieb statt Bohumil. Aber jetzt bin ich Susanne, später werden sie mich Susi nennen, und mein Klassenvorstand wird manchmal, wenn sie finden wird, dass ich wieder zu stur bin, Süßchen zu mir sagen. Susi, ich akzeptiere, aber mag es nicht, was soll ich tun, und jetzt also Susanne Breycha, mein Gott, noch mit einem Ypsilon. Das bin nicht ich, ich möchte davon laufen, aber die 4.B. wartet, ich will doch danach studieren. Ich hatte doch schon einen Plan, alles war für mich so klar, und dann kamen die Russen und zerschossen unsere Wohnung. Das war es, sagte mein Vater, als er die Löcher in den Wänden sah. Wir gehen…

Wir stehen alle im Hof, wieder der Bienenstock, nur ich kenne niemanden, stehe da, komme mir verlassen vor, möchte eigentlich weinen, aber das muss ich durchstehen.

Jetzt singen alle die Bundeshymne. Ich nicht. Ich kenne den Text nicht, nicht die Melodie, ich bin die einzige, die den Mund zu hat. Also mache ich ihn auf, tue so, als ob ich singen würde, diese Hymne des fremden Landes, in dem ich jetzt lebe, leben muss, damit wir in Freiheit aufwachsen.

Warum musste es so kommen?

Der Breschnew ist eine Sau, sagt meine Mutter immer, sie musste ja eine Tochter und ihre alte Mutter zurück lassen. Aber ich bin noch Tschechin, ich kenne diesen fremden Text nicht, und während ich den Mund bewege, singe ich im Geist Kde domov muj…Wo ist meine Heimat…ja die ist weg, ein für allemal, ich bin eigentlich keine Tschechin mehr, wir haben Asyl bekommen und sind jetzt staatenlos.

Jetzt gibt es Applaus, auch ich klatsche, ich will mich ja noch in der Menge verstecken, ich will nicht auffallen, noch nicht, noch bin ich eine von ihnen. Oder doch nicht? Werde ich jemals dieses Niemandsland verlassen, in das ich so gnadenlos hineingestoßen wurde, mit dieser einen Zugfahrt, mit diesem einen Grenzübertritt, mit diesem einen Verlust der Kindheit, des bisherigen Lebens, der eigenen Sprache?


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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