Yenga, Aziz und St. Gallen

OLTEN 15.11.2012 - Pedro Lenz, Schriftsteller. Foto: Daniel Rihs

Wenn ich spätabends von einer Lesung in die WG zurückkam, sass Yenga oft noch an unserem Tisch. Wir nannten ihn Papa Yenga, obwohl er kaum älter war, als mein WG-Kollege und ich. Aber seine kongolesischen Landsleute nannten ihn auch so und uns gefiel es. «Et alors, ça va Papa Yenga?» -«Ooh oui, ça va déjà!», sagte er und öffnete die Arme, als wollte er die ganze Umgebung in seine Aussage einbeziehen.

Wir tranken dann einen Tee und liessen unseren späten Gast erzählen. Aber bevor er zu erzählen begann, rügte er jeweils mein Aussehen. Wie es möglich sei, dass ein erwachsener Schweizer mit gutem Einkommen so verlaust rumlaufe.

Aber ich sei doch überhaupt nicht verlaust, gab ich zur Antwort. Mein Hemd sei sauber, meine Hosen fast neu und die Schuhe frisch gewichst. Darum gehe es nicht, erklärte Yenga. Es gehe um die Eleganz. Mir fehle die Eleganz. Und wenn ich es wünsche, begleite er mich einmal zum Kleidereinkauf und zum Coiffeur. Dann könne er mich beraten und mir beibringen, was Eleganz sei. Eleganz sei ein wichtiger Ausdruck von Wohlergehen. «Bien habillé, bien parfumé, bien coiffé, bien présenté!», rief er mir zu und zeigte auf sein eng geschnittenes Hemd.

Ich soll mir mal seinen Freund Aziz anschauen. Der arbeite als Eisenleger, aber am Abend strahle er eine Eleganz aus, die alle Schweizer in den Schatten stellt. Wir kannten Aziz fast so gut wie Papa Yenga. Wenn man ihn fragte, woher er sei, erklärte Aziz immer: «Je viens du Senegal. C’est Senegal pas Saint Gall!», als hätten wir den Senegal und St.Gallen irgendwann nicht unterscheiden können.

Yenga und Aziz haben meinen WG-Kollegen und mir viel beigebracht, nicht nur über Eleganz und Geografie. Wir lernten zum Beispiel die Französische Sprache lieben, die uns in der Schule fast verleidet war. Wir lernten, was es heisst, sich nie so ganz in einer Stadt einrichten zu können, wenn man nie weiss, ob und wie lange man bleiben kann. Es wäre übertrieben zu sagen, wir hätten uns in den Monaten, in denen wir gelegentlich mit ihnen zusammensassen mit Papa Yenga und Aziz angefreundet. Dazu hätte es mehr gebraucht, mehr Zeit, mehr Empathie, mehr innere Eleganz von unserer Seite.

Irgendeinmal waren beide nicht mehr da. Sie seien weg, zurück in Afrika oder zumindest nicht mehr in der Schweiz, sagten gemeinsame Bekannte. Wir wussten nichts Genaueres und wissen es bis heute nicht. Aber hin und erinnert mich mein ehemaliger WG-Kollege daran, dass Sain Gall und Senegal nicht dasselbe sei. Dann nicken wir uns ernst und melancholisch zu und denken an unsere Afrikanischen Gäste.

Pedro Lenz

www.pedrolenz.ch


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit mit Flüchtlingen UNHCR.org