Alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz – Flucht im “Ford Transit”
Im Jahr 1965 weilte ich zusammen mit zwei Kommilitonen der HSG St. Gallen zu einem Studienaustausch hinter dem Eisernen Vorhang an der Universität Brno (Brünn). Wir pflegten unter anderem Kontakte mit sogenannten Dissidenten, also Studenten, Künstlern und Schriftstellern, welche an der aufkeimenden Befreiungsbewegung “Prager Frühling” arbeiteten. Deren Ziel war es, die Irrtümer des Kommunismus und die Ausweglosigkeit der Planwirtschaft durch einen demokratischen Sozialismus zu ersetzen. Ich lernte nebst anderen Intellektuellen den Maler Vasicek kennen. Er war abstrakter Kunst und der Philosophie Henri Bergsons verpflichtet. Er glaubte, die Demokratie werde sich durchsetzen. Ich war gegenteiliger Auffassung und versprach, ihn notfalls in den Westen zu führen.
Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und besetzten die strategisch wichtigen Orte im Landesinnern. Es kam zu Kämpfen zwischen Besatzern und der Zivilbevölkerung mit Dutzenden von Toten. Ich zögerte nicht, mietete einen “Ford Transit”, fuhr mit einem abgelaufenen Visum durch die russischen Besatzungstruppen in das Dorf im Kreis Hodonin und holte Vladimir mitsamt zahlreichen Bildern herzklopfend an die Grenze nach Österreich. Meine Fahrt war das Abenteuer eines Studenten. Die Grenzposten öffneten kopfschüttelnd den Schlagbaum. Sie liessen und durch, wir atmeten auf. Nach Ankunft in der Schweiz haben wir die Kosten für die Flucht mit Bilderverkäufen begleichen können.
Heute stelle ich die Flucht dieses Künstlers in einen grösseren, vor allem politischen Zusammenhang. Aufgrund der Erlebnisse hinter dem Eisernen Vorhang weiss ich, was Freiheit, Liberalismus, Demokratie und Menschenrechte bedeuten. Ich habe gewissermassen am eigenen Leib erlebt, dass diese aber auch ihren Preis haben können. Für den Flüchtenden wie für den Fluchthelfer.
Alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz