Laschas Reise endet zu Hause

Reportage Mario Fuchs

© Coralie Wenger

6. Februar 2014, ein eiskalter Donnerstagabend. Lascha wartet im Asylheim in Frauenfeld. Er wartet auf den Tag, an dem er nach Hause muss: zurück nach Georgien. Irgendwann Ende Februar wird es so weit sein. Jetzt aber wollen wir noch einmal zusammensitzen, zusammen lachen, zusammen trinken. Wir hocken auf dem Boden, auf einem roten Perserteppich, und stossen mit georgischem Wein aus einer Coca-Cola-Flasche an.

Lascha flüchtete aus seiner Heimat, weil er im Westen ein neues Leben, eine bessere Zukunft finden wollte. Er flüchtete aus einem Georgien, in dem die Regierung korrupt, die Armee mächtig und die Wirtschaft schwach war. Lange hatte er auf der Seite gestanden, auf der es ihm gut ging. Doch dann war er nicht mehr einverstanden mit allem, setzte sich zur Wehr – musste letztlich fliehen.

Seine Reise dauerte sechs Jahre. Zuerst führte sie ihn in die Slowakei, dann nach Österreich, Deutschland, Italien. In die Schweiz kam er am 30. Mai 2010. Sein Ziel war, eine unbeschränkte Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Bekommen hat er sie nie – gescheitert, das wissen wir beide, ist er deshalb trotzdem nicht. Auch wenn er das langfristige Glück nicht in Europa fand, hat der 34-Jährige auf seiner Odyssee vieles andere angetroffen und kennengelernt: neue Freunde, neue Sprachen, neue Kulturen.

Wir gehen nach draussen, spazieren durch das winterliche Frauenfeld. Die frische Luft tue ihm sehr gut, sagt Lascha – aber nicht, wenn er alleine spazieren ginge. Dann mache er sich zu viele Gedanken. Wie geht es dem kranken Vater zu Hause? Wie seiner Freundin, mit der er zwar seit einigen Wochen nicht mehr zusammen ist, mit der er aber jede Woche telefoniert? Wie wird es ihm selbst ergehen – in einem neuen Leben in der alten Heimat?

Schon einmal hätte Lascha fast wieder zurück nach Hause gemusst. Nachdem er über Umwege in die Schweiz gelangt war, wurde sein erstes Asylgesuch abgelehnt. Am 13. August 2010 sass er in einem Polizeiauto auf dem Flugfeld in Kloten. Der Wagen hielt direkt neben der Maschine, die Lascha gemäss Dublin-Abkommen ins Erstantragsland, in die Slowakei ausfliegen sollte. Die Turbinen liefen bereits. Lascha sollte auf dem Rücksitz warten, während ein Polizist ausstieg, die Gangway zur Flugzeugtür hinaufstieg. In der Luke erschien der Pilot. Lascha sah, wie die Männer, beide in Uniform, gegen den Turbinenlärm anredeten. Wie der Polizist dem Piloten ein Formular zeigte. Wie der Pilot plötzlich den Kopf schüttelte, der Polizist die Gangway wieder hinunterstieg, zum Auto zurückkam, die Tür öffnete, einstieg. «Ich weiss nicht warum», sagt Lascha. Der Polizist wusste es auch nicht. Heute sagt Lascha: «Das war Gott.» Das Flugzeug hob ab ohne ihn. Der Polizist fuhr zurück zum Terminal und kaufte dem Mann, den er noch vor zehn Minuten hätte ausschaffen müssen, ein Sandwich und ein Fläschchen Coca-Cola.

Lascha überlegt sich, in der Heimat «ein Business» zu eröffnen. Er denkt an den Export von alten Maschinen oder Fahrzeugen, von Gebrauchtyachten und Autos. Zahlungskräftige Kundschaft gäbe es genügend, auch in Georgien leben Oligarchen. Lascha weiss aber, dass er dafür zuerst vertrauenswürdige Partner suchen muss, in der Schweiz etwa und in einem Nachbarland Georgiens, in Kasachstan vielleicht. Denn sein Georgien hat sich in den sechs Jahren, in denen er weg war, nicht komplett verändert; Korruption ist nach wie vor Teil des Systems. Seine Rückkehr ist nicht ungefährlich. Die Leute, vor denen er vor sechs Jahren geflüchtet war, haben noch immer eine gewisse Macht. Deshalb will Lascha auch nicht, dass er hier auf dem Foto erkennbar ist.

Aber Lascha freut sich auch. Etwa auf seine Freundin, mit der er zwar seit einigen Wochen nicht mehr zusammen ist, aber die ihn so schnell wie möglich wiedersehen will. Auf den Sohn seiner Freundin, der sich so sehr auf Schweizer Schokolade freut. Auf seinen Vater, dem es derzeit nicht gut geht, der schon lange operiert werden sollte. Und auf sein neues Leben in der alten Heimat – ohne zu wissen, was es bringen wird.

Mario Fuchs ist Journalist, derzeit bei der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens. Er lernte Lascha im Rahmen seiner Reportage aus der Asylunterkunft in Wilen TG kennen:  Am 24. Februar flog Lascha nach Tiflis. Die beiden skypen regelmässig. Es gehe ihm gut, auch der Vater sei wieder fast gesund. In einigen Monaten wird Mario Fuchs den Rückkehrer in Georgien besuchen.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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