„Gegenüber von China”

© Antje Stürholz

Der Zug bremst. Unser Schlafwagenschaffner kommt angelaufen und wedelt mit den Armen. „Aussteigen Kinderchen, wir sind da!“ Wir schultern das Gepäck, klettern auf den Bahnsteig hinab, der in der prallen Sonne liegt. Um die 40 Grad. Augenblicklich sind wir schweißüberströmt.

Einige alte Mütterchen hocken an dem flachen Bahnhofsgebäude, verkaufen gelbe und rote Kirschen. Eine Handvoll dunkel gekleideter Männer steigt aus dem Zug, verschwindet in der Wellblechsiedlung. Was sich hier Stadt nennt, besteht aus einstöckigen, zusammengenagelten Hütten.

Einige wenige Steinhäuser sind zu erkennen. Aus jedem Waggon steigen zwei Milizionäre, sehen sich aufmerksam um. Ich zupfe Tim unauffällig am Pullover, vom Zug weg. Wir gehen auf die alten Weiber zu, die wie Krähen nebeneinander hocken.

„Oh, was für herrliche Kirschen“, rufe ich, kaufe den Mütterchen etwas ab und fange an zu essen.

Bis auf ein Duo wenden sich alle Milizionäre ab. Der Schaffner springt wieder in seinen Waggon, bleibt in der Tür stehen.

Ich greife nach Tims Arm, winke dem Schaffner zu und wir laufen gezwungen langsam in den Ort hinein. Der Zug setzt sich hinter uns in Bewegung. Linkerhand ist kurz hinter dem Bahnhof ein Olivenbaum auszumachen, um den kleine Tische und Bänke gruppiert sind. Ein Café? Wir lassen uns auf zwei Bänkchen fallen. Tatsächlich wird uns Tee serviert. Der Wirt hat ein ponchoartiges Gewand an, trägt eine bestickte Kappe. Zwischen seinen gelben Zähnen glimmt eine Zigarette. Er grinst und entfernt sich lautlos. Tim sieht mich an und beginnt auch, gespenstisch zu grinsen. Eher ein Blecken. Wir lachen überspannt.

Eine Etappe ist geschafft. Das Schlimmste liegt aber noch vor uns. Wir mustern wortlos die Bergkette, die gleich hinter Mindschiwan aufsteigt.

Ein Pfad führt aus dem Ort in die Berge, schlängelt sich steil zwischen zwei Felswänden hinauf. Die Hitze dröhnt.

Der heiße Tee belebt, ich spüre die Müdigkeit und die Angst in meinen Gliedern. Wir sind im Kaukasus. In der Feriensiedlung wird man jetzt unser Verschwinden bemerken. Es gibt kein Zurück mehr. Wir brechen auf.

Anne Hahn, DDR-Flüchtling

Nach dem Verlust eines Studienplatzes für Kulturwissenschaften wegen ihres Engagement für die Punks ihrer Heimatstadt und anhaltenden Erpressungversuchen zur Mitarbeit mit dem MfS unternahm Anne Hahn im Mai 1989 einen Fluchtversuch aus der aserbaidschanischen Republik in Richtung Iran. Von dort aus wollte sie in die Türkei und schließlich nach West-Berlin gelangen. Ihre Festnahme und Rückführung erfolgte durch die sowjetischen Grenztruppen. Nach sechs Monaten Haft wurde sie nach dem Mauerfall im Herbst 1989 entlassen.

Herzlichen Dank an das Zeitzeugenbüro für diese Geschichte.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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