Die kleinen Momente

Wohnblock querBei über hundertdreissig Wohnungen in unserem Block kommt es öfter zu einer Besichtigung. Mieter ziehen aus, die Verwaltung rückt eine Annonce im Tagblatt ein, und dann sind die beiden Aufzüge eine Stunde lang besetzt mit den vierzig, sechzig oder auch hundert hoffnungsvollen Anwärtern auf ein neues Daheim. Verwechslungen von Zeit und Ort sind ganz natürlich, gar viele Stockwerke in unserem Haus, die gar viele Bewerber aus gar vielen Ländern mit gar vielen Sprachen verwirren – die Namensschilder unter den Türklingeln zeugen beredt davon.

Vor nicht allzu langer Zeit traf ich einen freundlichen fremden Mann auf unserem Verteilgang an – so nennt man die Etagen, die zu den Wohnungstüren führen hier bei uns. Er fragte in gebrochenem Deutsch nach einer bestimmten Wohnung und zeigte mir das Tagblatt, das er eingeklemmt zwischen Arm und Oberkörper trug. Die Besichtigung war erst in einer Stunde.

Das Missverständnis machte ihn verlegen, mir kam spontan eine Idee: Anstatt ihn in den Regen zu schicken, lud ich den freundlichen fremden Mann zu Tee und Kuchen ein. Die Wähe war gerade abgekühlt. Wir plauderten, Zeit verging, und als er sagte, er würde im Erfolgsfall seine Einzimmerwohnung gerne an meinen Sohn abtreten, dem der Sinn gerade sehr nach Ausziehen stand, waren wir schon beinahe alte Freunde.

Es sind die kleinen Momente, die zählen. Es zählt, wenn ich mir die Zeit nehme, um einer neuen Mieterin aus Ghana die Waschmaschine zu erklären, es zählt, wenn ich nicht sofort an laute Ausländer denke, wenn in der Wohnung unter mir geschrien wird, sondern auch in Betracht ziehe, dass da vielleicht jemand gestorben ist, und die irakische Nachbarsfamilie nun auf ihre Art trauert, es zählt, wenn ich im Lift auf meine spontane Nachfrage, was denn da im Topf dampfe, auch davon probiere, wenn mir die türkische Frau einen Löffel ihrer Kost anbietet, es zählt, weil ich Anteil nehme, hallo sage, nachfrage, aufmerksam bin. Es sind diese ungezählten kleinen Momente, die mein Leben genau jetzt, genau hier, genau so zu einem glücklichen Leben machen.

Den Nachnamen des freundlichen fremden Mannes übrigens kann ich mittlerweile ohne zu stolpern aussprechen, sehe ich ihn doch nun öfter. Er hat Glück gehabt. Wohnung Nr. 21 ist ihm zugesprochen worden.

Michèle Minelli, Schriftstellerin; Autorin des Buch “Die Integrierten”

www.mminelli.ch


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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