Abdulkarim Mustafa’s Flucht mit seinem Sohn Suhaib

SRF Rundschau

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Ich heisse Abdulkarim Mustafa, bin 33 Jahre alt, verheiratet, zwei Töchter und ein Sohn. Wir kommen aus al-Hajar al-Aswad, einem Vorort im Süden von Damaskus. Wir lebten dort ganz gut, ich bin Zahntechniker, und wir hatten sogar ein Auto. Als der Krieg aber immer schlimmer wurde, mussten wir flüchten. Das erste Mal wollte ich einfach meine Familie in Sicherheit bringen. Unser Dorf war seit ein paar Tagen umzingelt von der Armee, und die bombardierte uns die ganze Zeit. Es  gab nur eine einzige Strasse, die aus dieser Hölle hinausführte.  Aber wir waren nicht die einzigen, die flüchten wollten, es war eine lange Fahrzeugkolonne. Plötzlich schlug hinter uns eine Rakete ein. Der Explosionsdruck schleuderte für einen kurzen Moment unsere Hinterräder in die Luft. Im Rückspiegel sah ich eine Rauchwolke und schreiende Menschen. Scharfschützen schossen auf die Überlebenden des Raketenangriffs. Die Soldaten exekutierten viele unserer Nachbarn, die wie wir nur flüchten wollten.

Uns gelang die Flucht, und wir versteckten uns etwa drei Monate lang. In dieser Zeit zerstörten die Soldaten unser Haus in al-Hajar al-Aswad. Sie hatten es vor allem auf das Eigentum der Anti-Assad-Aktivisten abgesehen – und auf die Häuser, die Verwandten von Aktivisten gehörten. Sie plünderten und brannten alles nieder. Doch dann vertrieben die Rebellen die Regierungstruppen. Wir ergriffen die Gelegenheit und gingen zurück. Aber weil viele Häuser kaputt waren, gab es kaum noch Wohnraum für uns. Wir fanden die verweste Leiche des Cousins meiner Mutter. Er war 75 Jahre alt und hatte sich geweigert, das Dorf zu verlassen. Sie hatten ihn auf seinem Stuhl in den Kopf geschossen.

Viele meiner Verwandten schlossen sich der Rebellion an. Man hatte nur die Wahl: Entweder man akzeptiert das Risiko, dass man an jeder Strassensperre der Regierungstruppen aus dem Auto gezerrt und umgebracht wird, oder man wehrt sich dagegen mit der Waffe in der Hand. Für mich war das nie eine Option, mich zu bewaffnen. Obwohl sie mit dem Morden begonnen hatten, kann ich sie nicht töten. Am Schluss verkaufte ich das Auto, um das Geld für die Flucht in den Libanon zusammenzubringen. Von dort flogen wir nach Kairo, doch nach dem Sturz der Muslimbrüder im Sommer 2013 wurde es in Ägypten schwierig für syrische Flüchtlinge. Man beschuldigte uns, die Muslimbrüder unterstützt zu haben.

Wir mussten wieder flüchten, aber ich hatte nicht genug Geld. Auf Facebook hatte ich von Schleppern gelesen, die Flüchtlinge auf Boote pferchen und dann nach Italien bringen. Mein Geld reichte gerade für meine beiden kleinen Töchter und meine Ehefrau, doch auch dafür musste ich mich bei meinem Arbeitgeber verschulden. Meinen achtjährigen Sohn Suhaib behielt ich bei mir. Die Familie war mehr als eine Woche lang auf einem überfüllten Fischerkahn, als sie in ein kleineres Boot umsteigen musste. Die Schlepper liessen es auf dem Meer treiben, ohne Motor, ohne Steuermann – rund zehn Stunden Fahrt von der italienischen Küste entfernt. Dass man sie am Schluss fand, verdanken wir dem Kapitän des ersten Fischerboots. Er teilte den am Land zurückgebliebenen Verwandten mit, wo er den führerlosen Kahn mit den Flüchtlingen ausgesetzt hatte. So wurden meine Frau und die beiden Töchter, zehn und vier Jahre alt, am Schluss von italienischen Schiffen gerettet. Später schlichen sie sich aus dem Flüchtlingslager auf Sizilien weg, reisten mit dem Zug nach Frankreich, und von dort nahm sie ein Schlepper für 4000 Euro in seinem Auto mit nach Schweden.

Ich wollte mit dem Schiff nachkommen, sobald ich das Geld für die Überfahrt zusammengekratzt hätte. Doch Suhaib telefonierte so oft mit seinen Schwestern in Schweden, und die erzählten ihm so viel von dem Horrortrip übers Meer, dass er sich weigerte, mit mir mitzukommen. Nach vier Monaten erhielt ich einen Termin bei der schwedischen Botschaft in Kairo. Das war Ende April. Ich plädierte auf Familienzusammenführung. Vor kurzem erhielt ich einen Anruf einer Beamtin im Stockholmer Migrationsamt. Sie machte mir Mut und meinte, dass wir vielleicht bald ein Visum bekämen. Suhaib will doch nur seine Mutter sehen. Und ich vermisse meine Töchter und meine Frau.

Aufgezeichnet von Kurt Pelda

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit Kurt Pelda’s Reportage “Todesfahrt über Mittelmeer” für die “Rundschau” im Schweizer Fernsehen.


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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