Ich mechte…

© Kurt Prinz

© Kurt Prinz

Deutschstunde. Die Professorin, wie immer mit zersaustem Haar, in einem blauen Kostüm, steht vor der Tafel. Wir werden wie so oft lesen und dann analysieren. Ich werde wie immer ausgelassen, nehm ich an. Ein Zugeständnis an mich, die Neue, die nicht deutsch kann. Jede meiner Mitschülerinnen liest einen Absatz. Zuerst Nini, links von mir, dann Hanni, rechts von mir. Fühle ich mich übergangen? Ja und nein. Hat je jemand in der Schule mit mir darüber gesprochen? Nein. Ich kann doch lesen! Was würde die Professorin stören? Mein Akzent? Dass ich vielleicht langsamer lesen würde?

Die zersauste Deutschprofessorin stoppt Hanni, die bereits zum Lesen angesetzt hat. Nein, meint die Professorin, jetzt ist es an der Zeit, dass ich auch lese. Ich stehe also auf und fange an. Ein letzter Blick in die Klasse, einatmen, ausatmen, und ich sehe wie sich alle, alle Reihen, alle Gesichter, zu mir drehen. Sonst sehe ich nur die Rücken, die Köpfe, gebückt über dem Buch, jetzt sind sie aber alle umgedreht, sie wollen mich sehen, neugierig, sie zeigen mehr Interesse als sonst, noch einmal einatmen.

Ich lese den ersten Satz. Ich habe verdrängt, was es war, irgendwas aus dem neunzehnten Jahrhundert, vielleicht Die Reise nach Tilsit, oder etwas von Storm, Mörike, Conrad Ferdinand Mayer, etwas das ich nicht kannte und das mir fremd war. Der erste Satz. Die zersauste Professorin stoppt mich.

„Nein, so geht das nicht.“

Warum, wieso, was hab ich falsch gemacht…

„Öööööö, nicht ääääää, können, nicht kännen…sprich mir nach, ööööö….“

Ich sehe die neugierigen Gesichter der ganzen Klasse. Das hat es noch nicht gegeben. Wie interessant…

„Und iiii, ganz schmal, iiii, und eeee, nicht äääää…“

Und ich stehe da, bloß gestellt, ganz nackt, ganz allein, ich schäme mich, ich möchte im Erdboden versinken, so etwas ist mir noch nie passiert, ich war immer die Beste, ich war es gewöhnt, hervorgehoben zu werden, nicht nieder gemacht, so wie jetzt, versteht das die Frau da vorne das nicht?

ÖÖÖÖÖ, nicht äääää, iiiii, und eeeeee…

Ich wiederhole und bemühe mich, ich bete, bitte, lass es bald vorbei sein, und langsam spüre ich eine ungeheure Wut in mir aufsteigen, wie komm ich dazu, nur weil wir flüchten mussten, habe ich meine Sprache verloren, sie zählt hier gar nicht, es ist egal, dass ich immer die Beste war, dass ich in Tschechisch immer Einser hatte, dass meine Aufsätze vor der ganzen Schule am Schulschluss bei der Feier im Hof vorgelesen wurden, das alles zählt nicht, ich bin so wütend, dass ich mich verschlucke, ich bin so wütend, ich könnte die zersauste Professorin umbringen, ihr an die Gurgel springen, sie schütteln, die, die unsere Schularbeitshefte mit Kaffee übergossen in die Klasse zurückbringt, oder angepisst von ihrem Kater, wieso macht sie mich jetzt hier vor allen fertig, äääää, ööööö, bitte, lieber Gott, lass es vorbei gehen.

Endlich darf ich mich setzen. Kalter Schweiß läuft mir den Rücken herunter, jetzt liest Hanni, die Gesichter sind verschwunden, ich sehe wieder die Rücken, die Sensation ist vorbei, und ich werde diesen Moment nie ansprechen. Zu tief sitzt die Verletzung. ÄÄÄÄÄ,ööööö….ich gehe nach Hause und höre immer noch: Falsch, falsch, falsch, mach soooo und nicht sooooo….hörst du den Unterschied, nein, du hörst es nicht, das ist Kuchlbehmisch, du willst doch gut deutsch sprechen lernen, also ööööööö….

Zuzana Brejcha musste gemeinsam mit ihren Eltern als Kind aus der ehemaligen Tschechoslowakei flüchten. Heute arbeitet sie als Filmschaffende in Wien. Ihr Deutsch ist übrigens perfekt.

 

 


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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