Edith Meinhart: Zu Gast bei Tschetschenen

Ein unter Tschetschenen in Wien angesehener Mann öffnete mir die Tür, und irgendwann saß ich tatsächlich als Journalistin bei einer tschetschenischen Familie im Wohnzimmer. Ich werde diesen Abend nie vergessen. Es war die Zeit, als Flüchtlinge aus Tschetschenien von rechten Politikern und Boulevardmedien als Messerstecher und Schläger vorgeführt wurden, als nicht willens und fähig, sich in eine zivilisierte, gesellschaftliche Ordnung einzufügen, und der inzwischen verstorbene FPÖ-Landeshauptmann Jörg Haider wörtlich angedroht hatte, Kärnten „tschetschenenfrei” zu machen. Ich fuhr ein gutes Stück mit einem Bus, vorbei an einem Einkaufszentrum, hinter dem es an diesem Winterabend recht finster wurde.

Die Familie wohnte in einem nach dem Krieg hochgezogenen Wohnbau am Rande der Stadt und erwartete mich vollzählig versammelt im Wohnzimmer. Die Mutter hatte Manti gemacht, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, und es dauerte nicht lange, da sagte sie mit einem Blick auf ihren 26 Jahre alten Sohn Ahmet: „Früher hat eine tschetschenische Mutter geweint, wenn sie keine Söhne hatte. Heute weint sie, weil sie Söhne hat.”

Ihr Mann, Magomed, hat in Grosny Philologie studiert, und um zu zeigen, wie gut es ihnen allen einmal gegangen ist, schlug er das Fotoalbum auf, das vorbereitet am Tisch lag.

Dieses Grosny hatte ich nicht erwartet. Es sah aus wie ein blühendes, pastellfarbenes Saint Tropez der 1960er-Jahre, nur mit schwarzen, russischen Limousinen statt bunten, englischen Sportflitzern.

Neben diese Postkarten-Idylle legte Magomed später die Aufnahmen eines devastierten Grosny, mit leeren Straßen, zusammen gefallenen Häusern, das Dach der einst prachtvollen Universität weg gebombt, und seine Frau Madina versuchte in Worte zu fassen, was man auch auf diesen Fotos nicht sah: Jugendlichen war Kloreiniger in die Venen gespritzt worden, ein Mann wurde zwischen zwei Panzer gebunden und zerrissen, ein anderer an einen Laternenpfahl gebunden, zu seinen Füßen eine Ladung Sprengstoff. Ahmed, der den ganzen Abend meist still auf der Couch saß und zuhörte, sagte über den Toten, den er als Bub gesehen hatte: „Der Kopf war ganz blau und klein wie von einer Puppe.”

Nach ein paar Stunden fuhr ich nach Hause, und wann immer ich seither mit Flüchtlingen zu tun habe, fällt mir ein, was Magomed mir über Österreicher und Tschetschenen mitgegeben hat. Es war etwas ganz Einfaches und Grundsätzliches über Flüchtlinge und Menschen, die das Glück haben, nicht weglaufen zu müssen, letztlich aber auch etwas über mich selbst, die ich mich als junge Erwachsene zu einer Zeit ins Studentenleben stürzte, als junge Erwachsene in Tschetschenien gerade in eine Welt aus Chaos und Gewalt schlitterten. Streue man einem Menschen, der in Frieden aufgewachsen ist, Salz auf die Haut, könne er es wegwischen, sagte Magomed. Streue man ihm Salz auf die Haut, explodiere er, denn er habe keine Haut mehr: „Sie ist mir in zwei Kriegen abgezogen worden.”

Edith Meinhart ist Journalistin bei “Profil”


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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