Auf der Flucht ins Paradies

In der flimmernden Hitze taucht plötzlich eine Stadt auf. Sie besteht nur aus wellblechgedeckten Lehmhütten und franst an ihren Rändern wie ein Krebsgeschwür in die Savanne aus. Die trostlose Siedlung ist das Flüchtlingslager Mai Aini im Norden Äthiopiens. Rund fünfzehntausend Menschen, die vor unbefristetem Militärdienst, Armut, Folter, politischer Verfolgung und Perspektivlosigkeit aus dem Nachbarland Eritrea geflohen sind, hausen hier – und warten. Warten, dass der eritreische Diktator Isayas Afewerki endlich stirbt und sie in ihre Heimat zurückkehren können oder dass sie ihre Reise in ein besseres Leben in Europa, Amerika oder Australien endlich fortsetzen können. Viele warten seit Jahren.

Yordanos 3

In Mai Aini traf ich die fünfzehnjährige Yordanos. Ohne ihre Eltern war sie eineinhalb Jahre zuvor geflohen. Sie wollte ihrem Vater in die Schweiz nachfolgen. Doch als sie im Flüchtlingslager davon erfuhr, dass viele Mädchen auf dem Weg durch die Wüste von Menschenhändlern vergewaltigt, von Kidnappern entführt, von Organhändlern getötet und viele die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer auf überfüllten Booten nicht überleben würden, entschloss sie sich, in Mai Aini zu bleiben. Zumindest vorerst. Alle zwei Wochen telefonierte sie mit ihrem Vater. »Er hat mir versprochen, dass er mich nachholt«, erzählte Yordanos mir in ihrer Hütte unter einem kitschigen Heiligenbild.

Ich habe Yordanos Geschichte für die wichtigste Zeitung der Schweiz aufgeschrieben. Kurz darauf wurde ich anlässlich des Weltflüchtlingstages zu einer Diskussion nach Zürich eingeladen. Dort versprach der Chef des schweizerischen Bundesamtes für Migration: Yordanos dürfe in die Schweiz kommen, schließlich sei sie minderjährig, nichts spreche gegen die Familienzusammenführung.

Einige Wochen später sah ich Yordanos in Addis Abeba das erste Mal seit unserer Begegnung im Flüchtlingslager wieder. Als ich sie fragte, ob sie sich auf die Schweiz freue, ließ sie laut die Gelenke ihrer schlanken Finger knacken und fragte leise. »Glaubst du, die Jungs und Mädchen in der Schule werden nett zu mir sein?«. Mein Ja schien sie nicht wirklich zu überzeugen. Dann wollte sie wissen, welche Musik Jugendliche in der Schweiz hören. Im Flüchtlingslager hatte sie versucht, die Texte der Songs von Rihanna, Shakira, Jennifer Lopez und Justin Bieber mitzusingen. Als ich ihr sagte, dass sie sich, zumindest was den Musikgeschmack betrifft, nicht groß umstellen müsse, erschien ihr das ferne Land, über das sie nichts wusste, außer »dass es dort allen Menschen gut geht«, ein bisschen weniger angsteinflößend.

Mittlerweile geht Yordanos in einem Dorf bei Basel in die Schule. Mit Hilfe ihres Wörterbuches wird sie diesen Text lesen können.

Philipp Hedemann

Weltreporter Philipp Hedemann berichtet in seinem Buch, das in diesen Tagen erscheint, über Erlebnisse, Begegnungen und Reisen in Äthiopien.

 


Jede Familie, die durch Krieg zerrissen wird, ist eine zu viel

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