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Bundesverwaltungsgericht, 9 April 1991-BVerwG 9 C 100.90

Publisher Germany: Bundesverwaltungsgericht
Publication Date 9 April 1991
Citation / Document Symbol BVerwG 9 C 100.90
Cite as Bundesverwaltungsgericht, 9 April 1991-BVerwG 9 C 100.90, BVerwG 9 C 100.90, Germany: Bundesverwaltungsgericht, 9 April 1991, available at: http://www.refworld.org/docid/3ae6b730c.html [accessed 6 January 2016]
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Bundesverwaltungsgericht, 9 Apr. 1991

Leitsätze (nicht amtlich):

1.         Selbstgeschaffene Nachfluchtgründe sind nur solche Verfolgung auslösende Umstände, die von dem asylbegehrenden Ausländer geschaffen worden sind.

2.         Es ist nicht Merkmal des objektiven Nachfluchtgrundes, daß sich das Verfolgung auslösende Geschehen im Heimatstaat des Asylbewerbers ereignet hat.

3.         Die Möglichkeit der Gewährung von Familienasyl spricht nicht gegen die rechtliche Einordnung des Nachfluchtverhaltens eines Familienangehörigen, das die Verfolgung eines anderen Familienmitglieds auslöst, als objektiver Nachfluchtgrund.

Aus den Gründen:

I.

Der Kl. ist ein im Jahre 1967 geborener Iraner. Sein Vater, während der Regierungszeit des Schalt Bediensteter in der staatlichen Verwaltung und zuletzt in der Behörde des Ministerpräsidenten beschäftigt, war nach der islamischen Revolution verhaftet worden und ist im Gefängnis verstorben. Der Kl. reiste im April 1983 über die Türkei in die BR Deutschland aus. Einige Monate nach ihm verließ auch seine Mutter endgültig den Iran und kam nach Deutschland. Mutter und Sohn leiteten darauf Asylverfahren ein. Die Mutter erreichte durch rechtskräftig gewordenes Urteil des VG Köln vom 13.12.1985 - 18 K 10478/85 - ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Diese Entscheidung ist damit begründet, der Mutter drohe wegen der Stellung eines Asylantrags Verfolgung durch die iranischen Behörden.

Der Kl. führte zur Begründung seines Asylantrags aus* Nach der Verhaftung des Vaters hätten Pasdaran die Familienwohnung gestürmt, durchsucht und sich drei Wochen darin festgesetzt. Seine Mutter habe ihn an wechselnden Orten versteckt, damit er nicht Wehrdienst im iranisch-irakischen Krieg habe leisten müssen. Verfolgung drohe ihm auch, weil er im Dezember 1982 in Teheran Flugschriften gegen das Khomeini-Regime verteilt habe; dabei sei er ertappt und für kurze Zeit festgehalten worden. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt ergänzte der Kl. diese Angaben dahin, er habe auch an seiner Schule in Teheran Flugblätter verteilt. Die Pasdaran hätten bei der Durchsuchung des Elternhauses Bücher mit monarchistischer Tendenz gefunden; zwei Wochen vor seiner Ausreise habe er in der Stadt K., wohin er zusammen mit seinem Onkel gereist sei, an die Teilnehmer einer politischen Veranstaltung Flugblätter verteilt. Dabei sei er gefaßt worden. Weil er aber noch keine 18 Jahre alt gewesen sei, sei er gegen Stellung einer Kaution wieder freigekommen. Man habe ihm gesagt, er solle seine Gerichtsverhandlung abwarten. Das Bundesamt lehnte den Antrag ab, weil der Kl. nicht glaubhaft gemacht habe, in die Verfolgung seines Vaters einbezogen oder aus anderen Gründen politisch verfolgt zu werden.

Das daraufhin angerufene VG verpflichtete die Bekl., den Kl. als Asylberechtigten anzuerkennen. Die Berufung des Beteiligten gegen dieses Urteil blieb ohne Erfolg. Das OVG hat ausgeführt: Dem Kl. drohe bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, dem mangels Vorverfolgung anzulegenden Prognosemaßstab, politische Verfolgung aufgrund des erfolgreichen Asylverfahrens seiner Mutter, denn der Iran praktiziere gegen Angehörige einer als Regimegegner oder Abtrünnige eingeschätzten Person Sippenhaft.

Der Bundesbeauftragte führt zur Begründung seiner vom BVerwG zugelassenen Revision aus: Der Kl. sei wegen der politischen Verfolgung, die als Folge des erfolgreichen Asylverfahrens seiner Mutter auch ihm drohe, nicht asylberechtigt. Das Betreiben eines Asylverfahrens durch die Mutter sei ein Nachfluchtgrund. Da dieser Verfolgung auslösende Umstand nicht, wie es das BVerfG ausgedrückt habe, in einem »Vorgang im Heimatland« bestehe, handele es sich um keinen objektiven, folglich urn einen subjektiven Nachfluchtgrund. Der Entscheidung des Berufungsgerichts lasse sich aber nichts dafür entnehmen, daß eine der Voraussetzungen, unter denen ein subjektiver Nachfluchtgrund ausnahmsweise erheblich werde, erfüllt sei. Schließlich habe das Berufungsgericht seiner Feststellung, dem Kl. drohe als Folge der Asylanerkennung seiner Mutter ebenfalls politische Verfolgung, zu Unrecht in Anwendung der vom BVerwG entwickelten Regelvermutung getroffen. Denn die Regelverrnutung gelte nicht für volljährige Kinder politisch Verfolgter.

II.

Die Revision des Beteiligten ist unbegründet. Das OVG hat die Berufung des Beteiligten zu Recht zurückgewiesen. Der Ki. ist als nächster Angehöriger seiner Mutter wegen der durch ihren erfolgreichen Asylantrag ausgelösten Gefahr, ebenfalls politisch verfolgt zu werden, asylberechtigt nach Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG.

Dem Kl. steht ein Asylanspruch nicht wegen einer bei seiner Ausreise aus dem Iran bestehenden oder unmittelbar drohenden politischen Verfolgung zu (vgl. BVerfGE 80, 154; BVerwGE 85, 139 = EZAR 202 Nr.18). Nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und deshalb für den erkennenden Senat gemäß § 137 Abs.2 VwGO bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts hat er den Iran unverfolgt verlassen. Sein Asylanspruch nach der genannten Verfassungsbestimmung ergibt sich indessen daraus, daß ihm künftig politische Verfolgung aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchtgrundes droht.

Die prognostische Einschätzung, der Kl. habe als einer der nächsten Angehörigen seiner von den iranischen Behörden als politische Gegnerin angesehenen Mutter ebenfalls politische Verfolgung zu befürchten, ist entgegen der Ansicht des Beteiligten vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei getroffen worden. Das Berufungsgericht hat dabei insbesondere nicht die - nur bei Ehegatten und minderjährigen Kindern anwendbare - Regelvermutung herangezogen, nach der immer dann, wenn Fälle festgestellt worden sind, in denen ein Staat Repressalien gegen die Ehefrau oder die minderjährigen Kinder im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung des Ehemanns oder Vaters ergriffen hat, auch der Ehefrau oder den Kindern, über deren Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden ist, das gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, EZAR 204 Nr.2; BVerwGE 75, 304; BVerwGE 79, 244 = EZAR 204 Nr.4). Das OVG hat vielmehr die Frage einer dem Kl. drohenden politischen Verfolgung ohne Rückgriff auf diese Regelvermutung aufgrund einer Prüfung und Würdigung seiner individuellen Situation beantwortet und dabei neben anderen Umständen vor dem Hintergrund der für den Iran festgestellten Praxis, nahe Angehörige unterschiedlicher Verwandschaftskategorien in die Verfolgung politischer Gegner einzubeziehen, auch die enge familiäre Verbundenheit des Kl. zu seiner als Regimegegnerin eingeschätzten Mutter berücksichtigt. Dies lassen die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sowie die ausdrücklich in Bezug genommenen Passagen aus den Urteilen des Berufungsgerichts vom 3.5.1988 - 16A 10426/87 - und vom 3.10.1989 - 16A 10190/88 - erkennen. Im Urteil vom 3.5.1988 spricht das Berufungsgericht überdies ausdrücklich aus, daß es die Frage einer möglichen Einbeziehung des in jenem Verfahren klagenden volljährigen Angehörigen eines politisch Verfolgten nicht anhand der Regelvermutung, sondern auf der Grundlage einer Würdigung der individuellen Umstände geprüft und bejaht hat.

Das Betreiben des erfolgreichen Asylverfahrens durch die Mutter, der die politische Verfolgung des Kl. nach sich ziehende Umstand, ist ein Nachfluchttatbestand, denn er ist nach der Ausreise des Kl. aus dem Heimatstaat entstanden und konnte folglich auch nicht für die Ausreise ursächlich werden (vgl. BVerfGE 74, 51 = EZAR 200 Nr. 18; BVerwGE 77, 258 ff, 260, 261 = EZAR 200 Nr. 19; BVerwGE 80, 131 ff, 133 = EZAR 200 Nr.21).

Das Betreiben des Asylverfahrens, durch die Mutter ist schließlich auch kein grundsätzlich asylrechtlich unerheblicher subjektiver, sondern ein erheblicher objektiver Nachfluchtgrund. »Subjektive« bzw. »selbstgeschaffene« Nachfluchtgründe sind - nur solche politische Verfolgung auslösende Umstände, die von demjenigen Ausländer geschaffen worden sind, der unter Berufung auf sie Asyl begehrt. Die Auffassung, daß beim subjektiven Nachfluchtgrund derjenige, der unter Berufung auf ein bestimmtes Nachfluchtverhalten Asyl begehrt, und derjenige, der dieses Verhalten an den Tag gelegt hat, ein und dieselbe Person sein müssen, liegt bereits - wenn auch unausgesprochen - der bisherigen Rechtsprechung des Senats zu den selbstgeschaffenen Nachfluchttatbeständen zugrunde (vgl. BVerwG, EZAR 200 Nr.21, BVerwG, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr.213). Die Personengleichheit zwischen dem den Nachfluchttatbestand Setzenden und dem wegen dieses Verfolgungsgrundes von Verfolgung Bedrohten als Merkmal des selbstgeschaffenen Nachfluchttatbestandes ist durch die aus Sinn und Zweck der Asylgewährleistung entwickelten Umschreibung der selbstgeschafffenen Nachfluchtgründe durch das BVerfG geboten. Dieses bezeichnet in seinem grundlegenden Beschluß vom 26.11.1986 (EZAR 200 Nr. 18) als selbstgeschaffene Nachfluchtgründe diejenigen Verfolgung auslösenden Umstände, »die der Asylbewerber nach Verlassen des Heimatlandes aus eigenem Entschluß geschafffen hat«, und als objektive Nachfluchtgründe die Umstände, die »eine Verfolgungssituation ohne eigenes (neues) Zutun des Betroffenen begründet haben. Damit erweist sich das »eigene Zutun« des von der Verfolgung Bedrohten bei der Entstehung der ihm drohenden Gefahr politischer Verfolgung als das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung der selbstgeschaffenen von den objektiven Nachfluchttatbeständen. Ein von einem anderen als dem Asylbewerber nach dessen Ausreise gezeigtes, eine Verfolgung des Asylbewerbers auslösendes Verhalten ist deshalb kein selbstgeschaffener, sondern ein objektiver Nachfluchttatbestand.

Der Zuordnung der Asylantragstellung der Mutter zu den - bezogen auf die dem Kl. dadurch drohende Verfolgung - objektiven Nachfluchtgtünden steht auch nicht entgegen, daß es sich bei der Asylantragstellung nicht um ein Geschehen, im Heimatland des Ausländers handelt. Es ist nicht Merkmal des objektiven Nachfluchttatbestandes oder auch nur Voraussetzung seiner asylrechtlichen Erheblichkeit, daß sich das Verfolgung auslösende Geschehen im Heimatstaat verwirklicht. Auch Verhaltensweisen eines Dritten und Geschehnisse und Vorgänge im Zufluchtsland können asylrechtlich erhebliche objektive Nachfluchttatbestände sein. Das BVerfG hat zur Beantwortung der Frage nach der asylrechtlichen Erheblichkeit der objektiven Nachfluchtgründe schlechthin als insoweit bedeutsamen Aspekt der ratio legis der Asylgewährleistung herausgestellt, daß in Verfolgungssituationen, die ohne eigenes (neues) Zutun des - bereits - im Zufluchtsland weilenden Betroffenen entstanden sind, Schutz zu gewähren ist, ohne daß der Betroffene zunächst in den Verfolgerstaat zurückkehren und das Risiko eingehen muß, ob er der ihm widerfahrenen Verfolgung entfliehen und so die bislang nicht gegebene Flucht nachholen und damit die Asylanerkennung erreichen kann. Ist dies aber die innere Rechtfertigung für die Asylerheblichkeit der objektiven Nachfluchtgründe überhaupt, kann es nicht darauf ankommen, ob der objektive Nachfluchttatbestand sich im Heimatland oder im Aufenthaltsstaat verwirklicht hat. Der Hinweis auf »Vorgänge oder Ereignisse im Heimatland« und auf »eine Änderung des politischen Regimes im Heimatland oder der dortigen Strafgesetze« im Beschluß des BVerfG vom 26.11.1986 (EZAR 200 Nr.18) ist deshalb nur beispielhaft zu verstehen.

Eine familiäre Verbundenheit zwischen dem die Verfolgung auslösenden Dritten und dem von der Verfolgung Betroffenen vermag das Kriterium des »eigenen (neuen) Zutuns« des Betroffenen nicht zu ersetzen. Aus der Vorschrift des durch Art.3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990 (BGBl. I 1354) neu geschaffen § 7 a Abs.3 AsylVfG folgt nichts Gegenteiliges.

Gegen die rechtliche Einordnung des Nachfluchtverhaltens eines Familienangehörigen, das die Verfolgung eines anderen Familienangehörigen auslöst, als objektiver Nachfluchtgrund kann entgegen der Ansicht der Beteiligten auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, auf diese Weise könnten selbstgeschaffene Nachfluchtgründe, die im Asylverfahren des Handelnden asylrechtlich unerheblich sind, zunächst im Verfahren von dessen Angehörigen asylrechtlich erheblich werden und dann über § 7 a Abs.3 AsylVfG zur Anerkennung des Handelnden selbst führen. Der Handelnde, der den selbstgeschaffenen unerheblichen Nachfluchttatbestand setzt, wird ungeachtet der ihm daraus erwachsenden VerfoIgungsgefahr nicht als asylberechtigt nach Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG anerkannt. Wird aufgrund praktizierter Sippenhaft in die Verfolgung des Handelnden jedoch einer seiner Angehörigen einbezogen, erlangt dieser Angehörige die Anerkennung als asylberechtigt aufgrund der ihm drohenden Verfolgungsgefahr, die nicht auf von ihm selbst geschaffenen Nachfluchtgründen beruht. Daß daran anschließend der Handelnde, sofern er Ehegatte oder minderjähriges Kind des Anerkannten ist, nunmehr seinerseits aufgrund von § 7 a Abs.3 AsylVfG n.F. die Rechtsstellung eines Asylberechtigten erlangen kann, beruht auf der Entscheidung des Gesetzgebers, Ehegatten und minderjährigen Kindern eines als asylberechtigt Anerkannten, unabhängig davon, ob diese Personen selbst verfolgt werden, im Wege des »Familienasyls« die Rechtsstellung eines Asylberechtigten zu gewähren.

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